Massen-Hungerstreik in israelischen Gefängnissen

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Palestina Soli-mit-Hungerstreik activestills-org19.04.2017: Seit Ostermontag (17. April) sind etwa 1.500 palästinensische Häftlinge in mehreren israelischen Gefängnissen in einem unbefristeten Hungerstreik, und es könnten noch mehr werden. Die Beteiligten bezeichnen ihre Aktion als "Streik für Freiheit und Würde". Es handelt sich um den größten Hungerstreik palästinensischer Gefangener in israelischen Gefängnissen seit fünf Jahren.

Parallel zum Beginn der Hungerstreikaktion fanden mehreren Demonstrationen von tausenden Palästinensern on Gaza und im Westjordanland anlässlich des am 17. April alljährlich begangenen "Tags der palästinensischen Gefangenen" statt. Demos gab es in Gaza, Ramallah, Bethlehem, Hebron, Nablus, Jericho und mehreren anderen Orten. In Bethlehem kam es zu Zusammenstößen mit israelischen Sicherheitskräften, die Tränengas und Gummigeschosse einsetzten und damit mehrere Verletzte verursachten. Zusammenstöße ähnlicher Art ereigneten sich auch vor der Palestina Soli-mit-Hungerstreik-2 activestills-orgisraelischen Haftanstalt Ofer in der Nähe von Ramallah, dem einzigen israelischen Gefängnis außerhalb des israelischen Staatsgebiets im Westjordanland.

Der Hungerstreik kam maßgeblich auf Initiative des seit 2002 eingekerkerten 58 jährigen PLO Parlamentsabgeordneten Marwan Barghouti zustande, einem populären Führungsmitglied der zur PLO gehörenden Befreiungsorganisation "Fatah". Er wird vielfach als bester Nachfolger für den derzeitigen Palästinenser-Präsidenten Abbas angesehen. Barghoutis Verdienst ist vor allem, dass er es erreichte, dass sich auch zahlreiche Häftlinge anderer palästinensischer Befreiungsbewegungen der Aktion anschlossen und so der Einheit der Palästinenser im Kampf für die Befreiung neue Impulse gaben. Neben Fatah- und PLO-Anhängern beteiligen sich an dem Hungerstreik inhaftierte Angehörige der zur PLO in Konkurrenz stehenden, islamistisch geprägten "Hamas", die im Gazastreifen die Macht ausübt, sowie Mitglieder der linken "Demokratischen Front zur Befreiung Palästinas" (DFLP) und der aus der Palästinensischen Kommunistischen Partei entstandenen "Palästinensischen Volkspartei" (PPP).

Der Hungerstreik ist eine Reaktion darauf, dass Verhandlungen über Forderungen zur Verbesserung der Haftbedingungen seit anderthalb Jahren infolge der Blockadehaltung der israelischen Behörden ohne Ergebnis blieben, obwohl die Zahl der Häftlinge in den Gefängnissen in den letzten 18 Monaten erheblich zugenommen hat. Zu den Forderungen der Häftlinge gehörten u. a. die Wiedereinführung von zwei Besuchstagen im Monat, die im letzten Jahr auf einen Besuch reduziert worden waren, die Verbesserung der medizinischen Versorgung der Gefangenen, das Recht auf Nutzung von Münztelefonen, die in jedem Gefangenentrakt installiert werden sollen, sowie die Möglichkeit, bei den Besuchen Fotos mit den Familienangehörigen zu machen. Außerdem ist die Abschaffung der sogenannten "administrativen Haft" eine Hauptforderung. Mit ihr können Festgenommene ohne jede Bekanntgabe einer Beschuldigung oder Anklage und ohne jedes gerichtliche Verfahren von einem israelischen Militärgericht bis zu sechs Monaten eingekerkert werden, wobei die sechsmonatige Haft "aus Sicherheitsgründen" beliebig oft wiederholt verhängt werden kann. Gegenwärtig gibt es rund 500 Palästinenser in dieser Art von "Administrativhaft".

Internationales Aufsehen erregte bei der neuen Hungerstreikaktion, dass Marwan Barghouti die Gelegenheit bekam, die Gründe für den Streik in einer von ihm verfassten Kolumne in der US amerikanischen Tageszeitung "New York Times" zu erläutern, die er an die Zeitung geschickt hatte. Zum großen Ärger von Israels rechtem Regierungschef Netanjahu war Barghouti dabei in einer Anmerkung des Herausgebers als "einer der am meisten respektierten und vereinigenden führenden Persönlichkeiten Palästinas" bezeichnet worden, der "trotz Jahren der Einkerkerung und Einzelhaft in israelischen Gefängnissen" in seinem Bemühungen um Frieden und Freiheit flexibel geblieben sei, ohne dass dabei die Anschuldigungen wiedergegeben worden waren, für die er 2004 von einem israelischen Gericht zu fünfmal lebenslänglicher Haft und zusätzlich 40 Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Barghouti war als Kommandeur der von der "Fatah" gegründeten "Taksim"-Miliz während der zweiten Intifada (ab Okt. 2000) von israelischen Palestina Wand-mit-Marwan-BarghuthiSoldaten gewaltsam aus dem Westjordanland in das israelische Staatsgebiet verschleppt und gefoltert worden und danach in einem politischen Schauprozess zu den oben erwähnten Strafen verurteilt worden, weil er angeblich für mehrere Attentate im Rahmen der Intifada verantwortlich war.

In seinem Artikel in der "New York Times" (voller Wortlaut) verwies Barghouti darauf, dass Israel als Besatzungsmacht das Völkerrecht fast 70 Jahre lang vielfältig verletzt hat und trotzdem straflos blieb. Jahrzehntelange Erfahrung habe bewiesen, "dass das inhumane israelische System kolonialer und militärischer Besetzung darauf abzielt, den Geist der Gefangenen und der Nation, zu der sie gehören, zu brechen, indem ihnen Leiden an ihren Körpern zugefügt, sie von ihren Familien und Gemeinschaften getrennt, erniedrigende Maßnahmen unterzogen werden, um Unterwerfung zu erzwingen". Doch trotz dieser Behandlung seien die Gefangenen nicht bereit zu kapitulieren. Grundlegende Rechte, die im Völkerrecht garantiert sind, würden von Israel "in Privilegien verwandelt, über die seine Gefängnisverwaltungen entscheiden, sie uns zu gewähren oder sie uns zu verweigern". Palästinensische Häftlinge hätten unter Folter sowie unmenschlichen und entwürdigenden Behandlungen und medizinischer Vernachlässigung gelitten, rund 200 palästinensische Häftlinge seien seit 1967 infolge solcher Handlungen gestorben. Durch den Hungerstreik werde versucht, diesen Missbräuchen ein Ende zu machen.

Barghouti bringt in dem Artikel in Erinnerung, dass in den letzten fünfzig Jahren seit der israelischen militärischen Besetzung der Palästinensergebiete während des Sechs-Tage-Krieges im Jahr 1967 mehr als 800.000 Palästinenser in israelischen Gefängnissen eingekerkert worden sind. Das entspricht etwa 40 Prozent der gesamten männlichen Bevölkerung Palästinas. Derzeit sind noch etwa 6500 Palästinenser in Israel eingekerkert, darunter 62 Frauen und 300 minderjährige Kinder und Jugendliche sowie Parlamentsabgeordnete, Journalisten, Menschenrechtsaktivisten und Hochschullehrer.

Barghouti schreibt in dem Artikel, dass Israel ein "duales Rechtssystem, eine Form von juristischer Apartheid" eingeführt habe, die Israelis, die Verbrechen an Palästinensern begehen, praktisch Straflosigkeit gewährleistet, während Widerstand von Palästinensern gegen das koloniale Militärregime Israels kriminalisiert wird. Damit wollten die israelischen Machthaber "die legitimen Bestrebungen eines ganzen Volkes begraben". Doch stattdessen hätten sich die israelischen Gefängnisse "zur Wiege einer anhaltenden Bewegung für palästinensische Selbstbestimmung entwickelt". Der neue Hungerstreik werde einmal mehr demonstrieren, dass die Gefangenen-Bewegung "der Kompass ist, der unseren Kampf anführt. den Kampf für Freiheit und Würde":

Israel seit nicht die erste Besatzungs- und Kolonialmacht, die zu solchen Mitteln greift, heißt es abschließend in der Barghouti-Kolumne. Weil jede nationale Befreiungsbewegung in der Geschichte ähnliche Praktiken erlebt habe, stünden so viele Völker heute an der Seite der Palästinenser. "Ihre Solidarität macht das moralische und politische Scheitern Israels deutlich. Rechte werden nicht von einem Unterdrücker gewährt. Freiheit und Würde sind universelle Rechte, die der ganzen Menschheit gehören, deren sich jede Nation und alle Menschen erfreuen. Die Palästinenser können dabei keine Ausnahme sein. Nur durch die Beendigung der Besatzung wird dieses Unrecht enden und die Geburt von Frieden kennzeichnen".

Es ist zu hoffen, dass der Hungerstreik der palästinensischen Gefangenen seine Wirkung auch in der Weltöffentlichkeit und in der internationalen Politik haben wird. In wenigen Wochen steht Anfang Juni der 50. Jahrestag der völkerrechtswidrigen Besetzung der Palästinenser-Gebiete durch israelische Militärgewalt an. Die von Rechten und Rechtsextremisten gestellte israelische Regierung hat sogar beschlossen, aus Anlass dieses Jahrestages rd. 10 Millionen Shekel (2,75 Mio. Dollar) für mehrere Veranstaltungen im besetzten Westjordanland auszugeben, um in Anwesenheit der zwei rechtsextremen Minister (Bildungsminister Naftali Bennett und Kulturminister Miri Regev) "Israels glorreichen Sieg im Sechs-Tage-Krieg und die Befreiung von Judäa und Samaria (zionistische Bezeichnung für das Westjordanland, Anm. Red.), der Golan-Höhen und des Jordan-Tals" zu feiern. Dass dies  jede Aussicht auf eine ausgehandelte Friedensregelung zwischen Israelis und Palästinensern weiterhin fast unmöglich werden lässt und damit auch den Frieden in der gesamten Region und den Weltfrieden gefährdet, liegt auf der Hand. Umso mehr sollte dieser Jahrestag Anlass sein, international den Druck auf eine solche Friedensregelung mit einer Zwei-Staaten-Lösung gemäß den verschiedenen einschlägigen Resolutionen der UNO zu verstärken, die Forderung nach Beendigung der israelischen Besatzung zu erheben und die Solidarität mit dem misshandelten palästinensischen Volk zu demonstrieren. Die beste Form dieser Solidarität ist die Verstärkung und Durchsetzung der Forderung nach unverzüglicher völkerrechtlicher Anerkennung des Staates Palästina durch alle Staaten der Welt einschließlich der Bundesrepublik Deutschland und der übrigen EU Staaten.

txt: Georg Polikeit
fotos: von activestills.org vom Solidaritätstag mit den palästinensischen Gefangenen am 17.4.2017