Belgien: Die PTB bringt die belgische Politik zum Zittern

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07.02.2018: Interview mit David Pestieau, Vizepräsident der belgischen Partei der Arbeit (PTB)

Ist die PTB populistisch? Wie ist der Abstieg der europäischen Sozialdemokratie zu verstehen? Welche Bilanz kann man aus der Erfahrung von Syriza ziehen? Wie ist dem politisch-medialen Einfluss des Establishments zu begegnen? Wann wird die PTB regieren? Mit prognostizierten 15 – 19 Prozent für die PTB bei Umfragen in Wallonien, dem französischsprachigen Teil Belgiens scheint die PTB dabei, die dort seit langem regierenden „Sozialisten“ (PS) bei den nächsten Wahlen 2018 und 2019 vielleicht zu überholen. Das hat im belgischen Unternehmerlager und bei den etablierten Parteien offenbar bereits ziemliche Unruhe ausgelöst.

Der Vizepräsident der PTB, David Pestieau beantwortet in dem nachfolgend wiedergegebenen Interview eine Reihe von Fragen dazu. Geführt wurde es mit dem französischen Internetportal „Le Vent Se Lève“ („Der Wind frischt auf“ – LVSL.fr) und am 15. Januar 2017 auch auf der Internetseite der PTB veröffentlicht.

LVSL: Die PTB ist eher in jüngerer Zeit als größere politische Kraft in Belgien aufgekommen. Doch dieser Aufstieg beruht auf einer tatsächlich schon im Jahr 2008 begonnenen Arbeit mit langem Atem, als die PTB eine Art von strategischem Bruch vollzog. Sie sprechen seitdem nicht mehr direkt von der Arbeiterklasse, sondern von „Menschen“, mit dem Slogan „Die Menschen gehen vor Profit“. Es wird oft populistischen Parteien in Europa vorgeworfen, die Klassenanalyse aufgegeben zu haben, um das aufzubauen, was man „neue Lateralitäten“(1)  nennt. Wie sehen Sie die Verbindung zwischen der Umgestaltung ihrer Ausdrucksweise und der Aufrechterhaltung eines intellektuellen Klassenkampf-Schemas?

David Pestieau: Wir haben die Klassenanalyse de facto nicht aufgegeben: Wenn Sie die Dokumente unseres Erneuerungskongresses von 2008 und des Solidaritätskongresses von 2015 lesen, ist die Klasse der Werktätigen im Zentrum der Überlegungen. Die Klasse der Werktätigen ist für uns die Klasse aller Menschen, die ihre Arbeitskraft verkaufen, um leben zu können. In Belgien gibt es vier Millionen lohnabhängig Beschäftigte. Natürlich ist die Situation nicht die gleiche wie vor fünfzig Jahren. Doch in gewisser Hinsicht, was für manche überraschend sein mag, ist die Klasse der Werktätigen sogar größer als früher, vielfältiger und zersplitterter. Wir stehen nicht mehr allein vor den großen Unternehmen von einst. Heute sind es große Produktionsketten von Subunternehmen und Sub-Subunternehmen, also mit mehr Abhängigkeit zwischen den Unternehmen und einer größeren Zersplitterung der Arbeitskollektive. Grundsätzlich ist der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit immer noch da, aber weniger sichtbar, weniger konzentriert. Von diesem Gesichtspunkt aus definieren wir uns als eine marxistische Partei und Partei mit einer Klassenanalyse. Die Frage und die Arbeit der radikalen Linken sind es, zu verstehen, wie den Werktätigen, die zersplittert und prekarisiert sind, wieder ein Klassenbewusstsein vermittelt werden kann. Das ist eine große Aufgabe.

Wir stimmen nicht mit der Idee überein, dass die Klassen in einer Gesamtheit namens „das Volk“ verschwinden würden. Dagegen stimmen wir überein mit der Tatsache, dass die Klasse der Werktätigen sich nicht bewusst ist, dass sie eine Klasse ist oder dass sie fähig ist, die Gesellschaft zu verändern. Es geht also darum, das zurückzugewinnen, eine Arbeit der Bewusstseinsbildung, der Mobilisierung, der Organisierung dieser Klasse der Werktätigen zu entwickeln. Also muss man mit Worten kommen, die zu diesem Gegensatz zurückführen. Als wir den Slogan „Die Menschen gehen vor Profit“ gewählt haben, haben wir die „Menschen“ ins Zentrum gestellt, aber wir haben vor allem den Gegensatz zum Profit hervorgehoben.

Unsere Arbeit ist seit einigen Jahren einerseits, sich einer Ausdrucksweise zu bedienen, die es ermöglicht, alle mitzunehmen, also keine Sprache der Eingeweihten zu verwenden, verständlich zu sein. Und andererseits, sich nicht auf das Mitnehmen zu beschränken: wir wollen die Menschen dazu bringen, nachzudenken, sich weiter zu entwickeln. Wir praktizieren die Vorgehensweise einer modernen marxistischen Partei, die zu erkennen versucht, wie es heute, im 21. Jahrhundert, in einer Zeit, wo die Linkskräfte in der Defensive sind, möglich ist, den Kampf aufzunehmen, um wieder die kulturelle Hegemonie über eine Anzahl von Konzepten, Worten, Bewusstseinsformen zu erlangen.

LVSL: Wie gelingt es Ihnen, mit dem Widerspruch zwischen der Wiederbelebung von marxistischen Konzepten, die vielleicht vernachlässigt wurden, und der Bekräftigung einer politischen Modernität umzugehen?

David Pestieau: Ich weiß nicht, ob diese Methode eine spezielle ist, aber es handelt sich jedenfalls um eine Methode, die ausgehend von unserer eigenen Praxis entwickelt worden ist. Wir haben festgestellt, dass wir nicht genug hörbar waren, und dies trotz der Tatsache, dass wir eine seriöse und tiefgehende Analyse der Krise des kapitalistischen Systems vorgebracht haben. Wir haben ein Nachdenken über dieses Thema im Jahr 2008 eingeleitet. Wir haben insbesondere die Art und Weise studiert, soziale Aktionen durchzuführen, die in der Lage sind, zehntausende Menschen einzubeziehen, und die Art, mit der wir unsere Botschaft weitertragen. Früher hatten wir eine Gesamtheit von Ideen und Konzepten, die wir über die Leute ausgeschüttet haben, anstatt zu versuchen, diese Ideen in dem Rhythmus zu präsentieren, in dem sie verarbeitet werden können.

Wir haben eine Botschaft, wir haben ein Fundament, wir haben eine Gesamtanalyse; und in jeder Etappe, jeder Periode versuchen wir zu erkennen, was wir auf die politische Agenda setzen können, welches die Themen sind, die die Debatte in einem besonderen Kontext voranbringen werden.

Nehmen wir zum Beispiel die Frage der Unternehmensbesteuerung und die Tatsache, dass die multinationalen Konzerne wenig Steuern zahlen. Wir versuchen, das Thema konkret zu machen, statt zu verallgemeinern und große Konzepte zu entwickeln. Wir haben bei der Schließung eines Werks von Arcelor-Mittal in Lüttich die Tatsache angeprangert, dass diese Firma nur 476 Euro Steuern bezahlt hatte. Es gab dann eine Konfrontation zwischen der Ungerechtigkeit der Massenentlassungen und der Tatsache, dass die großen Multis weniger Steuern bezahlen als die Arbeiter dieses Multis, die entlassen werden. Es geht nicht darum, einen Kursus in marxistischer Ökonomie im dritten Doktorgrad der Wirtschaftswissenschaften zu machen, sondern ein Nachdenken bei zehntausenden Arbeitern auszulösen: „Sieh‘ mal, da gibt es trotz allem in dieser Gesellschaft ein Problem zwischen der niedrigen Besteuerung der Großunternehmen und der Art, wie wir unsere Steuern bezahlen.“

Wir nehmen uns auch viel Zeit, um die Leute zu konsultieren, um zu wissen, was sie beschäftigt. Wenn Sie von Dingen sprechen, mit denen sie sich nicht befassen, können Sie reden, soviel Sie wollen, das wird nicht funktionieren. Man muss von den Dingen ausgehen, die sie beschäftigen, und dann die Aussagen ausweiten.

LVSL: Sie haben ein Rückzahlungssystem der Abgeordneten der PTB eingeführt, die nach dem Niveau des belgischen Durchschnittslohns bezahlt werden. Moralfragen und politische Erneuerung werden oft, besonders in Frankreich, benutzt, um die Kröte des Neoliberalismus schlucken zu lassen. Welchen Status hat dieses System für Sie? Ist es eine Angelegenheit der politischen Strategie?

David Pestieau: Es handelt sich vor allem um unsere Vision der Gesellschaft und unserer Ideologie. Unsere Idee des aktiven Engagements ist, dass wenn man nicht lebt wie man denkt, man schließlich da ankommt, so zu denken, wie man lebt. Wenn Sie in einer Situation sind, wo Sie 6000 oder 10.000 Euro pro Monat bekommen, was das Gehalt eines Abgeordneten oder eines Ministers ist, dann verlieren Sie Ihre Verbindung mit der Realität. Sie müssen ihren Chauffeur fragen, was der Preis eines Brotes ist, ehe Sie ins Studio gehen. Und wenn Sie es vergessen haben, machen Sie einen Schnitzer, wie Copé mit seinen Schokoladenbrötchen (2). Dieser Bruch zwischen dem politischen Establishment und der Bevölkerung ist sehr groß.

Um den Anspruch zu haben, die Werktätigen zu repräsentieren, muss man weiter wie alle Welt leben. Man muss in den bevölkerungsreichen Stadtteilen leben, das gleiche Einkommen haben und die gleichen Dinge spüren können. Als die Erhöhung der Mehrwertsteuer auf Energie von sechs auf 21 Prozent diskutiert wurde, waren wir die einzigen politischen Repräsentanten, die erkennen konnten, dass dies am Ende des Monats einen Unterschied macht. Eine Erhöhung von sechs auf 21 Prozent - für jemanden, der 6000 Euro pro Monat bekommt, ist das nicht in seinem Alltag zu spüren, das ist eine Abstraktion, das ist etwas, was er nicht begreifen kann.

Alle unsere Verantwortlichen leben mit dem Durchschnittslohn eines Arbeiters, was auch der Partei ermöglicht, eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit zu haben, da die Mehreinkünfte an die Parteikassen überwiesen werden. Wir wollen nicht völlig abhängig sein von öffentlichen Zuwendungen, die wir seit jetzt drei Jahren erhalten. Was mich angeht, bin ich kein Abgeordneter, sondern ein Kader der PTB. Es gilt der gleiche Grundsatz: ich bekomme einen durchschnittlichen Arbeiterlohn und ich lebe in einem von den Lohnabhängigen bevölkerten Stadtteil.

LVSL: Ihre Gallionsfigur Raoul Hedebouw (mit dem wir im Dezember 2016 ein Gespräch geführt haben), ist nicht der Parteipräsident, sondern „nur“ einer ihrer Sprecher. Was bedeutet das im Hinblick auf Ihre Analyse der Problematik des politischen Cäsarismus?

David Pestieau: Eine Entscheidung ist tatsächlich getroffen worden. Aufgrund unserer sehr kollektiven Tradition waren wir mit einem Problem konfrontiert: Der mediale politische Raum ist von Persönlichkeiten besetzt, von Leuten, die nach vorn gestellt werden. Wir haben regelmäßig versucht, das Kollektiv der PTB nach vorn zu stellen. Wir wissen jetzt, dass das nicht funktioniert, wenn man nicht auf Persönlichkeiten setzt, die man popularisiert. 2005 haben wir beschlossen, zwei Personen zu popularisieren: den Parteipräsidenten Peter Mertens hauptsächlich für die niederländischsprachige Seite, und den nationalen Sprecher der Partei, Raoul Hedebouw hauptsächlich für die französischsprachige Seite. Das erklärt, dass wir beschlossen haben, das „Spiel mitzuspielen“ und die Kommunikation, jedenfalls anfangs, auf diese Personen zu konzentrieren. Aber immer mit der Idee, dass diese Personen das Wort eines Kollektivs repräsentieren. Also die großen Orientierungen, die über die Stimme unserer Sprecher in die Medien kommen, sind das Ergebnis kollektiver Diskussionen. Sie entscheiden nicht über unser Projekt, weil sie sich eines Tages morgens rasiert haben, so geht das nicht, und folglich sind wir absolut nicht in Übereinstimmung mit irgendeiner Art des Cäsarismus oder der Idee eines Menschen der Vorsehung.

LVSL: Wir möchten zurückkommen auf die Art, wie Sie sich in die sozialen Kämpfe einreihen, vor Ort, mit der Entwicklung von alternativen Initiativen, wir denken da an die „Manifiesta“(3) , an Ihre zahlreichen Jugendorganisationen, an die neuen Zeitschriften. Reiht sich dies alles ein in eine Strategie des Aufbaus einer Art von Gegen-Gesellschaft?

David Pestieau: Auf der einen Seite gibt es da die sozialen Kämpfe. Dieser erste Aspekt der sozialen Kämpfe ist ganz offensichtlich die DNA unserer Partei. Das heißt, dass wir meinen, dass man, wenn man größere Veränderungen in der Gesellschaft will, ein entsprechendes Kräfteverhältnis entwickeln muss. Es sind die Menschen, die Massen, die die Geschichte machen, sagte schon Marx. Durch bedeutende soziale Bewegungen kann man tiefgehende Veränderungen und Umwälzungen in der Geschichte erreichen. Es ist also logisch, dass wir viel Energie in die soziale Arbeit investieren, gleich, ob das auf gewerkschaftlicher Ebene oder auf der Ebene von Stadtteilvereinigungen usw. ist.

Wir meinen, dass die Arbeiter, die Jugendlichen, die verschiedenen Akteure der Bevölkerung sich der öffentlichen Angelegenheiten, der politischen Angelegenheiten annehmen müssen, dass sie Akteure der Politik und nicht Konsumenten der Politik sein müssen. Das ist eine Sichtweise, die sich sehr von der traditionellen Sicht der Repräsentation unterscheidet, die sich auf Wahlen alle vier, fünf oder sechs Jahre, je nach Land, ohne andere Form demokratischer Teilnahme beschränkt; wo man seine Macht an professionelle Repräsentanten delegiert, die sich dann ihrer bemächtigen und in Wirklichkeit oft andere Interessen vertreten als die des Volks oder derjenigen, die sie gewählt haben.

Das zweite Element ist, dass wir meinen, dass die Entwicklung dieses sozialen Kampfes sich auch vollzieht in Verbindung mit dem Kampf der Ideen. Wir investieren viel Energie in die „Manifiesta“, was ein Fest ist, das wir auf die Beine gestellt haben. Wir können nicht verhehlen, dass wir von anderen Ansätzen ausgingen als die von den anderen kommunistischen Parteien in der Welt auf die Beine gestellten Feste, wie das der Humanité in Frankreich oder das Fest der Avante in Portugal, wo es gelungen ist, Volksfeste zu veranstalten, bei denen populäre Kultur und politische Debatte eine enge Verbindung eingehen.

Unser Ziel ist vielleicht nicht, eine Gegen-Gesellschaft zu schaffen, aber auf jeden Fall eine kulturelle Gegen-Hegemonie. An einem Ort verschiedene Aspekte zu konzentrieren, ob dies der Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit, aber auch gegen den Rassismus, für den Frieden, für das Klima, für die demokratischen Rechte ist - die verschiedenen Themenbereiche, in denen wir zu arbeiten versuchen, versuchen wir über dieses Fest zusammenzubringen, das gemeinsam von unserer Zeitung „Solidaire“ und unserer Organisation „Medizin für das Volk“ organisiert wird.

LVSL: „Medizin für das Volk“, das ist auch ziemlich einzigartig, können Sie uns was dazu sagen?

David Pestieau: Das sind Ärztehäuser, die entstanden sind aus der Kritik der Tatsache, dass wir in Belgien konfrontiert waren mit einer liberalen Medizin, einer Leistungsmedizin, das heißt, dass die Leute zum Arzt gingen, oft nicht wenig Geld bezahlten und nicht immer gut versorgt wurden, weil je mehr Patienten diese Art von Medizinern sah, umso mehr Geld erhielten sie. Es wurde versucht, ein anderes Modell in der Praxis zu starten, das Ärzte hatte, die Ärzte des Volkes genannt wurden. Das erste Ärztehaus ist 1971 von der PTB gestartet worden. Jetzt gibt es elf Ärztehäuser, die jeweils in bevölkerungsreichen Stadtteilen lokalisiert sind. Dies sind Ärzte, die beschlossen haben, eine soziale Medizin und eine kostenlose Medizin zu entwickeln. Andere Ärztehäuser sind auch entstanden, mit anderen Leuten, die nicht in der PTB sind, die aber eine gewisse Zahl von ähnlichen Grundsätzen haben. Heute gibt es ein System, das als Pauschal-System bezeichnet wird, das jetzt 250.000 Patienten in Belgien umfasst, wo Leute kostenlos versorgt werden können, indem sie in einem Stadtteil-Ärztehaus eingeschrieben sind. Für unsere 11 Ärztehäuser sind das rund 25.000 Patienten, die von Ärzten versorgt werden, die großenteils Mitglieder der PTB sind und die beschlossen haben, im Dienst der Bevölkerung zu arbeiten und Zugang zur Gesundheitspflege anzubieten.

LVSL: Um wieder auf die allgemeine Politik in Belgien zurückzukommen, so erfreuen Sie sich im Moment an guten Umfragewerten, zumindest im französischsprachigen Teil. Einige belgische Medien neigen dazu, ein portugiesisches Szenario für Sie hier bei den nächsten Wahlen 2019 vorauszusagen. Raoul Hedebouw hatte dem RTBF (französischsprachiger öffentlich-rechtlicher Fernseh- und Rundfunksender) erklärt „Wir werden frühestens in 10 oder 15 Jahren an der Macht sein“. Sie vermeiden immer wieder die Frage einer Machtübernahme. Welche Vision haben Sie gegenüber diesem Szenario?

David Pestieau: Ich werde mit einem kleinen Bonmot von Mitterand  (4)antworten, welches im Prinzip sagte: „Regieren heißt nicht Macht haben“. Er sagte das, um sein Unvermögen gegenüber einer Reihe von politischen Entscheidungen zu rechtfertigen. Ich werde dieses Zitat von einer anderen Seite her verwenden, denn ich denke, es ist richtig. Ich denke, dass eine Regierung heute nicht die reale Macht in einer kapitalistischen Gesellschaft widerspiegelt. Die Macht des Staates ist ein Ensemble, wo es die Regierung gibt, aber auch die extrem große Vielzahl der Lobbyisten der multinationalen Konzerne, welche quasi direkt oder indirekt am Kabinettstisch sitzen.

Man sieht das in Frankreich, und ich glaube, das ist wirklich bemerkenswert, denn dort gibt es mehrere Repräsentanten aus Vorstandsetagen, welche heute Minister sind und quasi unmittelbar Gesetze mit entwerfen. In Belgien sieht man die Einflussnahme von Alexia Bertrand, der Staatssekretärin im Auswärtigen Amt, die die Tochter von Luc Bertrand ist, der über eines der größten Vermögen Belgiens verfügt (AvH) (5); es gibt die Repräsentanten der GDF-Suez (6)-Filiale in Belgien, die im Ministerkabinett des Energieministeriums sitzen. Wir haben also sehr tiefgehende direkte Verbindungen zwischen den Multis und der belgischen Politik.

Ein anderer Aspekt ist, dass es eine gewisse Anzahl von sehr hohen Funktionären gibt, die die Interessen des traditionellen Establishments repräsentieren, und dann gibt es auch noch eine ganze Reihe von Geheimdiensten, hohe Polizeioffiziere, Offiziere der Armee, die ebenfalls die Interessen des Establishments beschützen. Wir sagen, dass das derzeitige Spiel von Wahlen uns in Situationen bringt, in denen wir an der Regierung sein, aber keine wirkliche Macht ausüben könnten. Das ist sehr wichtig, denn es bestimmt unsere Strategie als linke Kraft. Wenn Sie die Gesellschaft von Grund auf verändern wollen, wenn Sie auch nur eine andere Verteilung des Reichtums wollen und kein Verständnis dieser Realität entwickeln, werden Sie die falsche Strategie verfolgen.

Die radikale Linke in Europa hat diese Erfahrung mit Griechenland erlebt. Es gab eine Regierung, die mit fast absoluter Mehrheit der Sitze gewählt wurde, Syriza, mit einem relativ radikalen Anti-Austeritätsprogramm, das sie aber nicht umsetzen konnte. Man kann über das Programm diskutieren, aber man kann nicht sagen, dass es sich nicht in Konfrontation mit den neoliberalen Dogmen befunden hat. Das praktische Resultat war, dass sie an der Regierung waren, aber nicht die Macht hatten.

Man hat erlebt, und das war insbesondere die Erfahrung, die in dem Buch von Yanis Varoufakis geschildert wurde, dass von den ersten Tagen dieser Regierung an alle Entscheidungen der griechischen Regierung Angela Merkel und der EU-Kommission zur Kenntnis gegeben wurden, weil die hohen griechischen Beamten für das europäische Establishment arbeiteten. Es war zu sehen, dass das griechische und europäische Establishment auf die Regierung von Alexis Tsipras durch eine wirtschaftliche Strangulierung Druck ausübten, insbesondere gerade vor dem Anti-Austeritäts-Referendum vom Juli 2015. Griechenland wurde also finanziell die Luft abgedrückt. Es gab den mehr oder weniger direkten Druck durch die griechische Polizei- und den Militärapparat...

Die in Griechenland praktizierte Strategie war, zu regieren, ohne wirklich über reale Macht zu verfügen. Das hat sie dahin gebracht, schließlich gezwungen zu sein, entweder aus der EU auszutreten oder das Merkel-Diktat zu akzeptieren und einzuknicken, was sie dann auch taten. Sie mussten ein Programm verwirklichen, welches das Gegenteil des Programms war, weshalb sie gewählt worden sind, d.h. das Programm der EU. Das ist keine Geschichte von vor einem Jahrhundert, sondern eine Geschichte von heute, von 2015 ...

Man kann nur feststellen: wenn wir eine Strategie wollen, die auf die Fragen unserer Zeit ausgerichtet ist, d.h. die größte Krise des Kapitalismus, eine politische Krise, eine demokratische Krise, eine Krise der internationalen Beziehungen - dann muss die Macht in ihrer Gesamtheit in Frage gestellt werden. Und wir sagen einfach, wenn wir in der Lage sein wollen, diese Macht auch nur ein wenig zu erschüttern, muss es eine genügend starke Gegenmacht geben. Und diese Gegenmacht bedeutet nicht nur, ein gutes Wahlergebnis zu haben. Es muss auch eine Bewegung in der Gesellschaft geben und eine Organisation, eine Fähigkeit, eine gewisse ideologische Hegemonie herzustellen, um ausreichend starke Positionen zu haben, um auf die Straße gehen zu können, wenn es wirtschaftliche Erpressung gibt; man muss alternative Medien haben, um eine andere Tonart zu Gehör zu bringen als private, von Milliardären besessenen Medien. Man muss Leute haben, die den Kampf auch innerhalb der Institutionen führen können zum Beispiel ...

Wenn wir nicht in der Lage sind, ein Minimum an Gegenmacht auf die Beine zu stellen und die Möglichkeit haben, die Bedingungen zu schaffen, um eine gewisse Anzahl unserer politischen Positionen durchzusetzen, laufen wir Gefahr, dasselbe Szenario wie Syriza zu erleben.

Richten wir uns also nicht an den Umfragen aus. Selbst wenn wir den Wahlerfolg haben würden, den uns diese Umfragen prognostizieren, müssen wir in der Lage sein, eine gänzlich andere Politik zu verwirklichen. Wir sagen ehrlich gegenüber aller Welt: wenn wir nicht in der Lage sind, ein Minimum an Gegenmacht aufzubauen und die Bedingungen dafür haben, um eine gewisse Anzahl unserer politischen Positionen durchzusetzen, dann riskieren wir ein Szenario à la Syriza. Das heißt, mit großer Hoffnung vom Volk gewählt zu werden und in der Regierung das Gegenteil der Politik machen zu müssen, für die wir gewählt worden sind. Wir haben einerseits nicht viel Zeit, die Dinge zu ändern, weil die soziale Situation der Menschen sich immer mehr verschlechtert, aber auf der anderen Seite müssen wir uns genügend Zeit nehmen, um etwas grundsätzlich anderes machen zu können als die derzeitige Politik, die in ganz Europa bekannt ist. Das ist nicht eine Frage des Zeitraums, nicht eine Frage von 10 - 15 Jahren, es gibt derzeit in Europa viele Krisen. Also können die Dinge sich schnell ändern. Aber es müssen eine Reihe von Bedingungen erfüllt sein.

Und im Moment sehen wir sie nicht erfüllt, denn wir sind der Meinung, dass wir selbst noch stärker werden müssen als politische Kraft, nicht nur in Bezug auf Wahlen, sondern auch als Kraft in der Gesellschaft. Außerdem haben wir in Belgien ein System von Regierungs-Koalitionen. Und hier sehen wir im Moment keine Veränderungen bei den anderen Kräften, die sich links nennen. Wir haben eine sozialdemokratische Partei, welche die politische Szene seit Jahrzehnten dominiert hat, und wir haben eine ökologische Partei. Doch diese beiden Parteien verharren heute immer noch in demselben Joch, dem sie sich seit 30 Jahren unterworfen haben.

LVSL: Gerade die Sozialistische Partei (PS) hat auf ihrem letzten Kongress, der soeben stattgefunden hat, eine Art „Linkswende“ angezeigt. Auf der einen Seite gibt es diese Ankündigung und auf der anderen Seite die ganze CETA-Angelegenheit  (7)zum Beispiel, die die Frage nach der wirklichen Motivation der PS aufwirft. Veranschaulicht dieser Kongress eine echte ideologische Wende oder dient er nur dazu, Sie zu blockieren?

David Pestieau: Ich denke, dass zuerst auf das Problem der französischsprachigen Sozialistischen Partei Belgiens eingegangen werden muss. Denn es gibt in Belgien zwei sozialistische Parteien, eine niederländischsprachige und eine andere frankophone Partei. Die frankophone Partei war bis jetzt etwas Besonderes, weil sie immer noch ziemlich einflussreich ist. Bei den letzten Wahlen hat sie im Süden des Landes 32% der Stimmen erreicht. Aber sie ist wie die Gesamtheit der Sozialdemokraten in ganz Europa mit einem Rückgang dieses Einflusses konfrontiert. Das hängt damit zusammen, dass die Sozialdemokratie ihren Erfolg dem Zusammenfallen zweier Phänomene seit 1945 verdankt: einer sehr starken Arbeiterbewegung, die soziale Errungenschaften erreichen konnte, und zum anderen war die europäische Bourgeoisie mit einer Realität konfrontiert, einem anderen System, dem Sozialismus im Osten. Wie auch immer man dieses System beurteilen mag, die Bourgeoisie musste hier Zugeständnisse machen, um zu verhindern, dass die Arbeiterklasse sich diesem anderen System zuwendet.

Enzo Traverso (8) sagte, dass die Sozialdemokratie in gewisser Weise ein Nebenprodukt der Oktoberrevolution sei. Ich würde nicht so weit gehen, aber auf jeden Fall ist der Erfolg, den die Sozialdemokratie hatte, mit einem sehr spezifischen Moment des Kapitalismus verbunden, der keineswegs sein wahres und normales Gesicht zeigt. Wenn man genau hinsieht, hat der Kapitalismus seit dem 19. Jahrhundert mehr Krisen erlebt als Stabilität. Diese berühmten 30 - 35 Jahre zwischen 1945 und 1980, die die glorreichen Tage der europäischen Sozialdemokratie waren, sind mit einem besonderen Zeitabschnitt des Wiederaufbaus einer starken Arbeiterbewegung und der Existenz eines konkurrierenden Systems verbunden.

In den neunziger Jahren hat die Hinwendung zum Sozialliberalismus den sozialdemokratischen Parteien eine Zeit lang einen Wechsel ermöglicht, mit der sogenannten "Politik des kleineren Übels" ("Ohne uns wäre es schlimmer"). Dann, mit der Krise von 2008, hat man erlebt, dass die Menschen ihr Heil zuerst in den traditionellen Parteien suchten (in Frankreich Sarkozy, dann Hollande), die die unteren Klassen des Volkes nicht aus der Krise herausbrachten. Heute ist seit einiger Zeit eine große politische Krise dieser traditionellen politischen Kräfte zu sehen. Es war also logisch, dass dieses Phänomen auch Belgien treffen würde.

LVSL: Die Besonderheit im französischsprachigen Belgien ist, dass dieser Absturz der Sozialdemokratie nicht zugunsten der extremen Rechten erfolgte, sondern auch zugunsten der Kräfte der radikalen Linken. Die Krise der Sozialdemokratie ist ein tiefgreifendes Phänomen. Kann sie sich erneuern oder hat sie ihre Grenzen erreicht?

David Pestieau: Im Hinblick auf ihren Parteitag reagiert die PS deutlich auf die Präsenz der PTB. Sie hatte nie eine ernsthafte Konkurrenz links von sich. Sie hatte immer eine Wählerbasis von 25 bis 40% der Stimmen. Heute orientiert sich ein Teil dieser Basis in Richtung PTB. Die PS übernimmt oder kopiert sogar einige Ideen der PTB, aber im Grunde hat sie ihre Orientierung auf die Anpassung an das bestehende System nicht verändert. Man sieht das bereits sehr gut in den ersten Erklärungen: "Das ist ein langfristiges Programm"; "Wir werden sehen, wann wir dafür Koalitionen haben werden". Es gibt also nicht wenige Ankündigungseffekte. Sie haben das mit François Hollande erlebt: "Ich werde in den Krieg gegen die Finanzwirtschaft ziehen", "Ich werde die europäischen Verträge überprüfen", und dann sah man hinterher, was daraus wurde. Darüber hinaus sind die Personen in der belgischen PS, die diese Veränderung verkörpern, nicht einmal neue Leute, sie haben bereits 20 - 30 Jahre lang oft eine sozialliberale Politik betrieben. Elio Di Rupo steht an der Spitze dieser Partei seit über 20 Jahren!

Wenn man aber die Frage stellt: "Werden Sie ernsthaft gegen die Politik der Europäischen Union kämpfen?“, mit anderen Worten: "Werden Sie Ungehorsam gegenüber den europäischen Verträgen an den Tag legen?", sagen sie im Grunde nein. Ich werde das sehr konkrete Beispiel der für 2023 geplanten Liberalisierung des Schienenpersonenverkehrs nehmen. Da wird ihnen die Frage gestellt: "Werden Sie sich dagegen stellen, das öffentliche Monopol in Belgien beibehalten und der europäischen Richtlinie nicht folgen?“ Und ihre Antwort ist nein. Das Gleiche gilt für den europäischen Markt von Treibhausgasemissionsrechten der großer Unternehmen (9), der zur Folge hat, dass nichts Ernsthaftes gegen die Klimaerwärmung unternommen wird und man die multinationalen Konzerne weiterhin die Luft verschmutzen lässt. Und man kann noch viele andere Beispiele dieser Art anführen…

Wir fordern konkrete Maßnahmen zu konkreten Fragen und da ist zu erkennen, dass es für die Sozialdemokraten dabei direkt ein "Nein" gibt. Nach 30 Jahren Neoliberalismus muss damit begonnen werden zu sagen, durch welche Maßnahmen der Rahmen der Sparmaßnahmen und der Liberalisierung auf den Kopf gestellt wird. Weil man weiß, dass dieser Rahmen dazu da ist, Sie dazu zu bringen, immer wieder dieselbe Politik zu verfolgen. Ich sehe nicht, wie die belgische Sozialistische Partei, die bereits angekündigt hat, in diesem Rahmen bleiben zu wollen, weiter links wäre, als Syriza es war.

LVSL: Ihre Abgeordneten leisten den Eid in den drei offiziellen Sprachen Belgiens, um ihr Festhalten an der Einheit des Landes zu zeigen. Es ist wichtig zu betonen, dass Sie die einzige (gesamt)nationale Partei Belgiens sind. Doch wenn der Protest gegen die Sparmaßnahmen und die EU in Wallonien sich positiv für die PTB auswirkt, scheint in Flandern die „Nieuw-Vlaamse Alliantie“ („Neue flämische Allianz“ - N-VA) Vorteil daraus zu ziehen. Wie erklären Sie das? Ist das das Zeichen eines unüberwindbaren Gegensatzes innerhalb der belgischen Nation?

David Pestieau: Ich würde dem französischen Leser antworten, dass es unabhängig von der Sprache in Frankreich historisch gesehen eher linke und eher rechte Regionen gibt. Ich glaube, niemand würde es in Frankreich in den Sinn kommen zu sagen, dass die Regionen deshalb voneinander getrennt werden sollten. In Belgien haben wir eine Besonderheit mit drei Sprachen: In Flandern wird Niederländisch gesprochen, in Wallonien hauptsächlich Französisch, in einem kleinen Teil wird Deutsch gesprochen, und in Brüssel spricht man Französisch und Niederländisch. Es gibt die gleiche Situation in einem anderen Land Europas, nämlich der Schweiz. Der Unterschied ist, dass dort alle Parteien nationale Parteien geblieben sind. In Belgien wurden zuerst die Parteien gespalten, bevor die Leute gespalten wurden. Aus Gründen des politischen Opportunismus wurde beschlossen, die Parteien in zwei Teile zu trennen. Wir sind eine nationale Partei geblieben. Es ist schwierig zu sehen, wie man eine internationalistische oder auch nur eine europäische Vision verteidigt könnte, wenn man nicht in der Lage ist, in Belgien eine einzige Partei zu sein und sich unter Marxisten zu verständigen, die einfach nur eine andere Sprache sprechen! Wir haben darauf gesetzt und tun es jeden Tag, eine nationale Partei zu sein. Die sprachliche Spaltung in Belgien dient den Interessen der besitzenden Klassen. Bill Gates ist bereit, jede beliebige Sprache zu sprechen, wenn es nötig ist, um Marktanteile zu erobern. Und es ist auch in Belgien zu sehen, alle großen Industriekapitäne sprechen alle Sprachen, aber sie haben offensichtlich ein Interesse, das „Teile und herrsche“ zu praktizieren, wenn sie sich an die unteren Klassen wenden.

In Flandern entwickelte sich die Sozialdemokratie in einem Kontext, in dem die Rechte stärker war und es eine nationalistische Bewegung gab, die sich entwickelte und politisch in die Rechte und sogar extreme Rechte einmündete. Die nationalistische Bewegung ist im Laufe der Jahre gewachsen und hat sich zu zwei Parteien entwickelt: einer "traditionellen" Bewegung und einer nationalistischen Bewegung der extremen Rechten. Seit den 1980er Jahren war diese nationalistische Bewegung der extremen Rechten, der „Vlaams Belang“, vielleicht zusammen mit dem FN in Frankreich, einer der Vorläufer eines Phänomens, das auch anderswo in Europa zu erkennen war, nämlich dass ein Teil der Stimmen der „einfachen Leute“ sich von den sozialdemokratischen Parteien abwandte, um zu den rechtsextremen Parteien zu gehen. Aus dieser Ablehnung der Sozialdemokratie entstand eine Verlagerung zur extremen Rechten, mit der Folge, dass in Flandern der Kampf für uns härter ist. Der Kontext ist weiter rechts, die Anti-Establishment-Stimmabgabe und der Protest gegen die Eliten ist in Flandern vom „Vlaams Belang“ und seit einigen Jahren auch von der N-VA gekapert worden. Es gibt also einen Kampf, um die Stimmen des „einfachen Volkes“ gegen die sehr rechts gerichteten Parteien zurückzuerobern. In Wallonien ist die Arbeit leichter, denn der Weg ist freier, weil die extreme Rechte da schwächer und gespalten ist.

Die Besonderheit Belgiens, die die Dinge noch komplizierter macht, ist, dass wir jetzt eine faschistische rechtsextreme Partei haben, der „Vlaams Belang“, und zusätzlich noch in der traditionellen flämischen Bewegung das Aufkommen einer "zivilisierten" extremen Rechten, wie man sagt, eine neue Rechte, die NV-A. Wir haben also eine der am besten organisierten faschistischen Parteien in Europa, die neben einer anderen Partei der neuen nationalistischen Rechten existiert, die auf sehr spezifische Art die Anti-Establishment-Stimmung vereinnahmt, obwohl sie selbst Teil davon ist.

Es ist eine schwierige Gleichung, die wir im Norden des Landes zu lösen haben. Diese Situation hat zur Folge, dass wir in Flandern nicht die gleichen Wahlergebnisse wie in Wallonien bekommen. Aber in einer Stadt wie Antwerpen, der größten Industriestadt des Landes, bekommen wir immerhin 9 %, was angesichts dieses Kontextes ein sehr gutes Ergebnis ist, auch im Vergleich zu nicht wenigen anderen Parteien der radikalen Linken in Europa. Aber der Kampf ist schwieriger. Wir glauben nicht, dass die Wallonen von Natur aus wesentlich linker sind als die Flamen, wie ich auch nicht meine, dass die Menschen des französischen Südens genuin mehr rechts sind als die in anderen Regionen Frankreichs. Wir meinen, dass es mit besonderen politischen Kontexten zusammenhängt und dass der Kampf überall geführt werden muss, mit dem Gedanken geführt werden muss, dass die Werktätigen vereint werden müssen. Das ist unsere Aufgabe. Manifiesta ist neben der belgischen Fußball-Nationalmannschaft einer der wenigen Orte, an denen beispielsweise französischsprachige und niederländischsprachige Menschen zusammenkommen.

LVSL: In letzter Zeit scheint die großen belgischen Medien eine echte Angst vor Rot ergriffen zu haben. Wie gehen Sie damit um, dass ein Teil der Presse versucht, Sie ständig mit dem Bild des Kommunisten mit einem Messer zwischen den Zähnen darzustellen? Haben Sie keine Angst davor, wie eine Vogelscheuche zu erscheinen?

David Pestieau: Es muss zuerst das Phänomen der Angst vor Rot analysiert werden. Es gibt zwei davon, die sich überschneiden. Zunächst das traditionelle der rechten Presse, derart zu übertreiben, um den politischen Kampf per Karikatur zu führen. Man hat es in Frankreich gesehen mit der Karikatur gegen Mélenchon während der Präsidentschaftswahl. Es wurden mehr oder weniger alle möglichen und vorstellbaren Verbrechen des Sozialismus im Umkreis von 10 000 Kilometern und während 100 Jahren herausgeholt.

LVSL: Aber „La France Insoumise“ (10) ist viel vorsichtiger als Sie und hat eine Reihe von Bezugspunkten abgelegt. Man kann dabei an den Verzicht auf die Farbe Rot oder die Internationale denken…

David Pestieau: Ja natürlich, aber was ich sagen will, ist, dass es unvermeidlich ist: Wenn Sie einen Kampf führen, bei dem Sie eine Reihe von neoliberalen Dogmen in Frage stellen, werden Sie angegriffen werden. Und Sie können die Farben haben, die Sie wollen, wenn Ihre Botschaft auch nur ein wenig den Neoliberalismus in Frage stellt, werden Sie für alles Mögliche beschimpft. Ich habe einmal eine Rede von Berlusconi (11) gelesen, in der Romano Prodi (12) als Kommunist beschimpft wurde! Man hat schon alles erlebt. Das ist die Angst vor einem herbeiphantasierten Rot, die als politisches Argument benutzt wird, um kurzfristig Wahlen zu gewinnen. Aber das ist unvermeidlich! Sie können auf Ihrem Kopf tanzen..., aber wenn Sie nicht auf diese Weise angegriffen werden, bedeutet das vor allem, dass Sie nicht damit beschäftigt sind, das System in Frage zu stellen. Alle Anführer von Streiks und sozialen Bewegungen werden zu bestimmten Zeiten verunglimpft und karikiert.

LVSL: Ein Gespenst geht um in der belgischen Presse?

David Pestieau: Ich denke, dass sich jetzt eine echte Angst vor der PTB zu äußern beginnt, über die übliche Karikatur hinaus. Man sieht es, wenn man die Erklärungen der Unternehmer liest. Es gab die des wallonischen Bosses der Bosse, der gesagt hat, dass es absolut notwendig sei, dass die PTB nicht regiert oder die politischen Entscheidungen beeinflusst. Seit einiger Zeit spürt man also, dass dieses Phänomen, das vor allem in politischen Auseinandersetzungen genutzt wird, zu einer echten Angst geworden ist. Denn die PTB steigt auf und könnte andere politische Parteien beeinflussen. Die Unternehmer reagieren und fordern, die PTB als nicht umgangsfähige Partei einzustufen.

Wie kann man es vermeiden, ein Etikett verpasst zu bekommen? Man muss damit anfangen, seine eigenen Ideen zu verteidigen und zu erklären. Alle Kommunikationsmittel nutzen, um es zu tun und nicht allein von traditionellen Informationskanälen abhängig sein. Man darf der Karikatur auch keine Flanke öffnen. Aber man hat zwei Möglichkeiten, wenn man auf diese Weise angegriffen wird: entweder man ändert seine Botschaft oder man stellt sich dagegen.

Ich denke, dass es in gewisser Weise eine tiefe politische Krise und eine antikommunistische oder anti-rote Botschaft gibt, die vor 20 Jahren sehr viel leichter durchging als heute. Es gibt heute ein tiefes Misstrauen der einfachen Leute gegenüber der Botschaft der dominierenden Medien. Es war beim Referendum 2005 in Frankreich zu sehen (13). Der politisch-mediale Einfluss reichte nicht aus, um die Erzählung des Establishments durchzusetzen.

Wenn wir also über den Aufbau einer Gegengesellschaft sprechen, schließt das auch ein, ein Netzwerk von Informations- und Diskussionsmöglichkeiten zu haben. Und da bin ich optimistischer als in der Vergangenheit, wenn ich die Entwicklung der alternativen Medien und der neuen Technologien sehe.

Wenn Sie jemanden verteufeln, bedeutet das nicht unbedingt, eine abschreckende Vogelscheuche aufzustellen, sondern vielleicht im Gegenteil, dass die Menschen sich dafür zu interessieren beginnen. Es ist ein gefährliches Phänomen, denn es gibt Leute, die man zurückdrängen muss, die Rechtsextremen zum Beispiel…

LVSL: Das ist die ganze Debatte um die Entdämonisierung des FN (Front National) in Frankreich…

David Pestieau: Genau. Aber Sie können nicht auf der einen Seite die extreme Rechte dämonisieren, wenn es darum geht, auf der anderen Seite die Austeritätspolitik der EU zu verteidigen. Wenn Sie sagen, dass die extreme Rechte und der Rassismus schlecht sind, aber das, was stattdessen vorgeschlagen wird, Macron ist, dann stärkt man die Rechtsextremisten. Also löst man damit kein einziges Problem. Das ist das wichtigste aktuelle Thema auf europäischer Ebene: entweder macht man weiter mit der Politik von Macron-Merkel und Kumpanei und die Europäische Union wird zunehmend autoritärer und austeritärer, oder es gibt eine Rückwendung zum Nationalismus, oder aber man es ergibt sich eine antikapitalistische Option. Das ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Das ist die Herausforderung, der wir uns in bescheidener Weise in Belgien stellen, aber es ist die Herausforderung überall in Europa.

Übersetzung: Christine Reinicke/Georg Polikeit

Anmerkungen:

  1. „Lateralität“ = eigentl. ein Begriff aus der Psychologie, Bevorzugung einer bestimmten Körperseite – Rechts- bzw. Linkshändigkeit
  2. Copé = führender Politiker der französischen Rechtskonservativen, der 2016 bei einem TV-Auftritt für den Preis eines Schokoladenbrötchens 10 – 15 Cent nannte, während er in Wirklichkeit bei 1 – 2 Euro lag, was als Zeichen seiner Abgehobenheit vom Alltag der normalen Menschen gewertet wurde.
  3. „Manifiesta“ = das jährliche große Kultur- und Volksfest der PTB-Zeitschrift „Solidaire“ in Bredene-aan-Zee (Westflandern), das 2017 mehr als 12 000 Besucher hatte.
  4. Sozialistischer französischer Staatspräsident 1981 - 1995
  5. Ackermans & van Haaren (oft abgekürzt als AvH) ist eine diversifizierte Gruppe, die in 5 Schlüsselsektoren aktiv ist: Infrastructure & Marine Engineering (DEME, eines der größten Baggerunternehmen der Welt - Algemene Aannemingen Van Laere, ein führender Auftragnehmer in Belgien), Private Banking (Delen Private Bank, einer der größten unabhängigen privaten Vermögensverwalter in Belgien, und Vermögensverwalter JM Finn in Großbritannien - Bank J. Van Breda & C °, Nischenbank für Unternehmer und freie Berufe in Belgien), Immobilien, Freizeit & Senior Care (Leasinvest Real Estate, ein börsennotierter Immobilieninvestmentfonds - Extensa, ein wichtiger Land- und Immobilienentwickler mit Schwerpunkt auf Belgien, Luxemburg und Zentraleuropa), Energy & Resources (Sipef, ein Agro-Industriekonzern in der tropischen Landwirtschaft) und Entwicklungskapital
  6. GDF-Suez = großer französischer Energiekonzern mit weltweiter Aktivität
  7. Vorgänge um das Freihandelsabkommen EU – Kanada, dem die PS-Regierung der Provinz Wallonien unter PS-Chef Paul Magnette die nach der belgischen Verfassung erforderliche Zustimmung zunächst verweigerte, im Gegensatz zur belgischen Gesamtregierung und der flämischen Regionalregierung, die diesen Widerstand  aber nach einigem Hin und Her und gewissen formalen Zugeständnissen dann doch  aufgab.
  8. in Paris lebender italienischer Historiker
  9. ETS = European Union Emissions Trading System = Emissionshandelssystem der EU, bei dem große Energie- und andere viel CO2 und andere Treibhausgase ausstoßende Konzerne mit Rechten (Zertifikaten) zur Emission von Treibhausgasen untereinander Handel treiben können
  10. „La France Insoumise“ = die von dem französischen Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon neu gegründete Bewegung „Das widerspenstige Frankreich
  11. Italienischer Großunternehmer und extrem rechter Ex-Regierungschef
  12. Italiensicher Christdemokrat und Ex-Regierungschef des Mitte-Links-Bündnisses „Ulivo“
  13. Gemeint ist die Abstimmung über den EU Verfassungsvertrag, bei dem die Mehrheit in Frankreich entgegen der massiven Beeinflussung durch Establishment und Medien mit Nein stimmte