Charakter der Krise

These 1

Mit dem Zusammenbruch der US-amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 hatte sich die seit 2007 schwelende Finanzmarktkrise mit atemberaubender Geschwindigkeit auf alle anderen Finanzzentren der Welt ausgebreitet. Im Unterschied zu voran gegangenen Finanzkrisen ist die gegenwärtige Krise im Zentrum des kapitalistischen Weltsystems ausgebrochen.

Der Zusammenbruch des globalen Finanzsystems ist nur dadurch verhindert worden, dass in den USA wie in Europa die Banken mit Finanzhilfen in astronomischen Größenordnungen gestützt oder dass wichtige Teile des Bankensystems verstaatlicht wurden.

Eine der zentralen Ursachen der Finanzkrise ist eine bisher nicht gekannte Aufblähung und Verselbständigung der Finanzsphäre gegenüber den anderen wirtschaftlichen Bereichen und die Einbeziehung aller gesellschaftlichen Bereiche in spekulative Finanzgeschäfte. Die Finanzblase hat ihre Grundlage darin, dass seit Jahrzehnten ein wachsender Teil der steigenden Profite nicht mehr für die Erweiterung und Modernisierung der Produktion verwendet wird, sondern als Finanzinvestition in den Weltfinanzmarkt fließt. Die Finanzinvestoren beanspruchen eine Rendite, die immer weniger aus der materiellen Produktion gedeckt werden kann. Die Finanzkrise ist nun jener Vorgang, in der die Renditeansprüche dieser Sphäre zumindest teilweise wieder auf ihre Basis in der Wertproduktion zurückgeworfen werden.

These 2

Die Finanzkrise hat einen weltweiten wirtschaftlichen Abschwung ausgelöst (nicht verursacht). Auf Grund der Verflechtung durch den internationalen Handel und die Finanzkanäle sowie durch die Auslands-Direktinvestitionen hat sich der Abschwung - ausgehend von den kapitalistischen Zentren - schnell auf die Entwicklungs- und Schwellenländer ausgebreitet und einen synchronisierten globalen Abschwung verursacht.

These 3

Die spezifische Form und der Verlauf der Krisenprozesse machen die Widersprüche sichtbar, die durch die gegenwärtige Phase der Globalisierung des Kapitalismus hervorgerufen werden.

„Mehr und mehr werden die letzten Schranken der nationalen Märkte niedergerissen. Der Weltmarkt wird immer mehr zu einem einheitlichen, den ganzen Globus erfassenden Feld kapitalistischer Konkurrenz. Bei der neuen Stufe der Internationalisierung geht es nicht mehr nur um die weitere Verflechtung des Handels und der Märkte. Die neuen Kommunikationstechnologien ermöglichen heute die Vernetzung der Produktionsprozesse und Finanzströme über den ganzen Globus. Im Zentrum der weltweiten Konkurrenz steht der Kampf, durch markt- und produktionsbeherrschende Positionen sowie die Führung im Wettlauf um Innovationen Monopolprofite zu erlangen. Die rasch voranschreitende Internationalisierung der Ökonomie gerät in Widerspruch zu den beschränkten Möglichkeiten nationaler Wirtschaftspolitik. Diese ökonomischen Prozesse und die damit verbundenen politischen wie kulturellen Entwicklungen werden Globalisierung genannt. Sie kennzeichnen die Erscheinungsform des Imperialismus am Beginn des 21. Jahrhunderts, ohne sein Wesen zu verändern.“ (Programm der DKP)

Nach dem Grundsatz, dass eine bestimmte Ökonomie eine bestimmte Politik bedingt - und das eine jeweils die Existenzbedingung des anderen ist -, bedingen globaler Kapitalismus und Neoliberalismus einander. „Der Neoliberalismus ist die Ideologie und Politik, mit der die Umwälzung der Arbeits- und Lebensweise, der Produktionsverhältnisse vorangetrieben wird, um diese dem neuen Stand der Produktivkräfte unter kapitalistischen Bedingungen anzupassen und dem Kapital verbesserte Verwertungsbedingungen zu verschaffen.“ (Programm der DKP).

Die neoliberale Politik der Umverteilung zu den Profiten und Vermögen, der Deregulierung, Privatisierung und Liberalisierung und der Umwandlung von Gesundheit, sozialer Sicherung, Bildung, Transport, Wohnen in eine Ware und Objekt der Spekulation, die Privilegierung von Finanzinvestitionen usw. hat die Macht des Kapitals weiter gestärkt, die soziale Polarisierung und weltweite Verarmung vorangetrieben und so die Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Produktionsweise verstärkt.

These 4

Die letztendliche Ursache dieser Finanz- und Wirtschaftskrise - wie auch der vorhergegangenen Krisen - liegt in der Konsumtionsbeschränkung der Arbeiterhaushalte gegenüber den vorhandenen Produktionsmöglichkeiten und dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktionsmöglichkeiten immer weiter auszudehnen. Da der Zweck des Kapitals nicht die Befriedigung der Bedürfnisse, sondern die Produktion von Profit ist, und da es dieses Ziel nur durch ständige Ausdehnung der Produktion erreichen kann, tritt ein Widerspruch auf zwischen der kaufkräftigen Nachfrage und einer Produktion, die beständig über diese ihre immanente Schranke hinausstrebt. Gleichgültig wie sich die Nachfrage als Folge der Lohnentwicklung oder staatlicher Nachfrage entwickelt, die Unternehmen investieren und steigern so lange die Produktion bis am Markt eine Überproduktion wirksam wird. Diese Überproduktion bedeutet Überproduktion von Waren und Produktionsmittel, also Überproduktion bzw. Überakkumulation von Kapital.

Die weltweite Überproduktion war durch die ungeheure Ausdehnung des Kredits und des schuldenfinanzierten Konsums – vor allem in den USA, aber in geringerem Ausmaß auch in osteuropäischen Ländern – verdeckt worden. Mit dem Platzen der Immobilien-Spekulationsblase in den USA kam die Überproduktion zur Wirkung und führte mit einer noch nie da gewesenen Geschwindigkeit zu Produktionseinstellungen, Pleiten und Entlassungen quer durch alle Industriesektoren und überall auf dem Globus.

These 5

Das Wachstumsmodell des globalen Kapitalismus hat sich erschöpft.

Das Wachstum, der Konsum und die Profite in den USA hatten als Lokomotive für die gesamte Weltwirtschaft fungiert. Während Industrieländer wie Deutschland und Japan und asiatische Schwellenländer, v.a. China, ihre Produktion auf Export getrimmt haben, wurden die USA zum größten Importeur von in aller Welt produzierten Waren. Der Konsum der US-Haushalte war der wichtigste Faktor des weltweiten Wirtschaftswachstums. Der Konsum wurde durch Schulden finanziert; die dafür erforderlichen Kapitalzuflüsse kamen aus den Exportüberschussländern. Mit dem Platzen der Immobilienblase brach die Kaufkraft der US-Haushalte abrupt ein. Ein historischer Wendepunkt des trotz stagnierender bzw. gesunkener Reallöhne steigenden Arbeiterkonsums war überschritten. Das Ergebnis ist eine gigantische Verschuldung der Haushalte in den USA. Die Krise ist Ausdruck für das Zusammenbrechen des bisherigen Wachstumsmodells von Produktion, Konsumtion und Akkumulation von Kapital und Profit im globalen Kapitalismus. Und es ist keine Alternative in Sicht.

These 6

Diese Krisenprozesse sind mit der Erschöpfung bisheriger Wachstumsfelder der autozentrierten Produktionsstruktur und der Kommunikations- und Informationstechnologie verflochten. Diese bisherigen Wachstumsfelder sind durch strukturelle Überkapazitäten, Verdrängungskonkurrenz mit Kosten- und Preissenkung, Arbeitsplatzabbau, hohen Ressourcenverbrauch gekennzeichnet.

Ob neue hochtechnologische Sektoren (Bio-, Nanotechnologie, ..) vergleichbare Wachstumsimpulse auslösen werden, ist offen.

These 7

Selbst wenn der Tiefpunkt des Abschwungs bereits erreicht sein sollte, ist nicht mit einer schnellen Erholung zu rechnen:

  • Trotz massiver staatlicher Stützungsprogramme haben die Banken erst einen Teil ihrer faulen Wertpapiere abgeschrieben. Den Banken drohen weitere Milliardenverluste, so dass eine erneute Bankenkrise nicht ausgeschlossen werden kann. Bei einer erneuten Verschärfung der Finanzkrise wären jedoch sowohl die finanziellen Handlungsmöglichkeiten der Staaten eingeschränkt wie auch die Zustimmung der Bevölkerung zu erneuten „Rettungsschirmen“ schwerlich zu gewinnen sein würde.
  • Die Rettungsprogramme für den Finanzsektor und die Folgen der Wirtschaftskrise haben zu explodierender Staatsverschuldung geführt. Die wachsenden Zahlungsprobleme hochverschuldeter Länder - darunter auch osteuropäische Länder und EU-Mitgliedsländer wie Griechenland, Irland, Portugal, .. - können zu neuen Erschütterungen des Weltfinanzsystems führen.
  • Weder vom Export noch von der Binnennachfrage gehen wesentliche Wachstumsimpulse aus. Insolvenzen, Kreditausfälle, Entlassungen und sinkende Nachfrage prägen die wirtschaftlichen Aussichten. Auf mittlere Sicht drohen Stagnation und Depression.

In diesem Zusammenhang stellen hohe Arbeitslosigkeit, beschleunigte Prekarisierung, wachsende Armut und weiterer Sozialabbau für die arbeitende Klasse die größte Bedrohung dar.

These 8

Die Krise ist Ausdruck dafür, dass die kapitalistische Produktionsweise an ihre natürlichen Grenzen stößt.

Weil höhere Ressourcenproduktivität - wenn z.B. aus einer Tonne Stahl etc. mehr Gebrauchsgüter als vorher hergestellt werden - zu höherer Arbeitsproduktivität führt, setzen sich umweltschonende Technologien im Kapitalismus tendenziell durch. Aber deren ressourcenschonender Effekt wird durch das kapitalistische Produktionswachstum zunichte gemacht: Da die Verwertung des Werts der Selbstzweck des Kapitals und die wachsende Aneignung des abstrakten Reichtums das treibende Motiv kapitalistischer Produktion ist, kennt das Kapital kein Maß außer sich selbst und leugnet jegliche Grenzen. Die Folge ist die unaufhaltsam voranschreitende Zerstörung der Natur.

Im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise haben umweltschonendere Technologien bisher nicht dazu geführt - und werden auch nicht dazu führen -, dass der Verbrauch von Ressourcen und der Ausstoß von Abfall gesunken wäre. Die Steigerung der Ressourcenproduktivität hat die Naturzerstörung nicht gestoppt, weil das Produktionswachstum nicht gestoppt worden ist. Und dieses kann nicht gestoppt werden, so lange die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise die wirtschaftlichen Prozesse bestimmen und jeden einzelnen Kapitalisten zwingen, sein Kapital fortwährend auszudehnen, den maximalen Profit zu erzielen und seine Produktion auf ständig erweiterter Stufenleiter fortzusetzen, um sein Kapital zu erhalten.

Das Kapital ignoriert - und muss in seinem systemimmanenten Streben nach Maximalprofit ignorieren -, dass wir auf unserem Planeten in einer endlichen Welt mit ihren objektiven Grenzen leben. Die Natur ist weder in der Lage, in ständig wachsendem Maße der Produktion die Rohstoffe zu liefern noch deren Abfälle aufzunehmen. Wie Marx prognostiziert hat: Die kapitalistische Produktionsweise untergräbt beide Quellen des sachlichen Reichtums: die menschliche Arbeitskraft und die äußere Natur.

These 9

Die Krise verschärft die katastrophale Situation in den Entwicklungsländern. Die Ärmsten haben am stärksten unter den Folgen der Wirtschaftskrise und des Klimawandels zu leiden und Millionen sind kurz vor dem Verhungern. Das 21. Jahrhundert droht zum Hungerjahrhundert zu werden.

Die Ernährungskrise hat direkt mit der Funktionsweise des kapitalistischen Weltmarktes, mit der Machtposition des Agro-Industriellen Komplexes und der Lebensmittel-Multis, mit Spekulation, Deregulierung, Liberalisierung und Weltmarktorientierung der Lebensmittelproduktion sowie die, durch die kapitalistische Produktionsweise verursachte Klimaveränderung zu tun.

Zusätzlich zur Sicherung der weltweiten Energiereserven für den eigenen Verbrauch, fördern die Staaten der kapitalistischen Zentren die Produktion von Bio-Diesel: Weltweit wächst auf immer mehr Feldern statt Nahrung das Rohmaterial für Treibstoff zum Ersatz von Erdöl. Hungerkatastrophen und Hungerkrisen sind - wie Finanz- und Wirtschaftskrisen - ein Feld des Klassenkampfes. In den Kampf der Kleinbauern, Landarbeiter und Landlosen, der gegen das transnationale Agro-Business gerichtet ist und der Ernährungssouveränität und ein menschenwürdiges Leben zum Ziel hat, ist nahezu die Hälfte der Menschheit einbezogen.

These 10

Erstmals in der Geschichte verbinden sich - verursacht durch die kapitalistische Produktionsweise - eine globale Finanz- und Wirtschaftskrise mit einer globalen ökologischen Krise, einer Energiekrise, einer große Teile der Menschheit erfassenden Ernährungskrise, einer Krise der Demokratie und der politischen Repräsentativität und mit verschärfter Prekarisierung von Arbeits- und Lebensverhältnissen zu einer umfassenden Krise der menschlichen Zivilisation. Die Alternative „Sozialismus oder Untergang in der Barbarei“ stellt sich mit einer bisher nicht gekannten Brisanz.

These 11

Bei der gegenwärtigen Krise handelt es sich um eine strukturelle Krise des neoliberalen Kapitalismus bzw. einer Krise der neoliberalen Regulation. Der Kapitalismus befindet sich jedoch - zumindest bisher - nicht in einer Systemkrise, weil die Herrschenden sich in der Krise noch als handlungsfähig erweisen und reaktionäre Strategien zur Krisenbearbeitung durchsetzen können und weil auf der anderen Seite ein gesellschaftlicher Block fehlt, der mit einem alternativen und mehrheitsfähigen Programm den Kapitalismus herausfordern und überwinden könnte.

These 12

Die Tiefe und der Charakter der Krisenprozess sprechen dafür, dass es sich um eine „Große Krise“ handelt, in der die Verhältnisse Ökonomie - Politik, Kapital - Arbeit sowie die internationale Kräfteverhältnisse neu justiert werden.

Daraus können sich unterschiedliche Entwicklungen ergeben: Diese Krise könnte sich sowohl als ökonomischer Anpassungs- und Erneuerungsprozess der kapitalistischen Produktionsweise erweisen, mit der eine neue Periode des Kapitalismus eingeleitet wird; sie könnte aber auch den Boden für Alternativen zum Kapitalismus bereiten.