19.03.2012: Das hat es in einem französischen Präsidentschaftswahlkampf bisher noch nicht gegeben: Unter dem Slogan "Reprenons la bastille!" ("Erstürmen wir wieder die Bastille!") demonstrierten am vergangenen Sonntag, dem Jahrestag der Erhebung der Pariser Commune am 18. März 1871, rund 120.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus ganz Frankreich durch das Zentrum von Paris zu der legendären Place de la Bastille, deren Erstürmung einst den Beginn der großen französischen Revolution von 1789 markiert hatte.
Auf der Abschlusskundgebung rief der Präsidentschaftskandidat der 'Front de Gauche' (Linksfront), der Linkssozialist Jean-Luc Melenchon, die Versammelten dazu auf, die Präsidentenwahl am 22. April (1. Wahlgang) zu einem neuen 'Bürgeraufstand' gegen das heutige 'ancien régime' (alte Regime) des noch amtierenden Staatschefs Sarkozy zu machen. "Geist der Bastille, der über diesem Platz schwebt: da sind wir wieder, das Volk der Revolutionen und Rebellionen in Frankreich. Wir sind die rote Fahne!" Mit diesen Sätzen schloss der Redner die Massenkundgebung, die den großen Platz völlig ausgefüllt hatte. Anschließend ertönten die Internationale und die Marseillaise.
Es war die wohl größte politische Demonstration in Frankreich seit dem Ende des 2. Weltkriegs. Nur die Gewerkschaften hatten bisher Demonstrationen dieser Größenordnung zustandegebracht.
Für das von der Französischen Kommunistischen Partei (PCF) maßgeblich initiierte und gemeinsam mit Linkssozialisten und anderen Linkskräften formierte Wahlbündnis der „Linksfront“ war diese Kundgebung vier Wochen vor dem Wahltermin eine inspirierende und Mut machende große „Heerschau“ für die „heiße Endphase“ des Wahlkampfs. In mehr als 200 Bussen und acht Sonderzügen waren Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus den verschiedenen Regionen Frankreichs angereist und zum Teil unter Polizeieskorte im Konvoi in die Hauptstadt eingefahren, um sich auf der Place de la Nation mit Zehntausenden aus der Hauptstadt selbst und dem Großraum Paris zu vereinigen. Dabei hatte es gemäß des Konzepts der „Linksfront“, dass sich die Menschen selbst um ihre Anliegen kümmern sollen, keine zentrale Organisierung und Finanzierung der Anreise gegeben. Unterstützungskomitees vor Ort hatten die Anfahrt in eigener Initiative organisiert, die Busse bzw. Züge gechartert und auch das Fahrgeld, aufgeteilt auf die Mitfahrenden, eingesammelt. Über 900 ehrenamtliche Helferinnen und Helfer waren im Einsatz.
Der etwa zweieinhalb Kilometer lange Demonstrationszug von der „Nation“ zur „Bastille“, der über zwei Stunden dauerte, war ein bunter Aufmarsch von Gruppen und Demonstrationsblöcken unter zahlreichen roten Fahnen sowie den Fahnen der verschiedenen die Linksfront tragenden Organisationen, mit unzähligen selbstgestalteten großen und kleinen Transparenten voller kreativer Einfälle. Musikkapellen, Schauspieltruppen und „Themengruppen“ wechselten mit Abordnungen von Beschäftigten aus Unternehmen, die von Schließung bedroht sind und zum Teil seit Monaten gegen die Verlagerung ihrer Arbeitsplätze ins Ausland kämpfen, sowie Abordnungen der verschiedenen öffentlichen Dienste, die von Sarkozys Stellenabbau betroffen sind (Stadtreinigung, Krankenhäuser, Schulen).
Der Zulauf zu dieser Massendemonstration der Linksfront, die auch in der Berichterstattung der bürgerlichen Medien nicht mehr mit Schweigen übergangen werden konnte, wird von vielen Beobachtern jedoch nur als ein weiteres Symptom für einen sich schon seit einigen Wochen abzeichnenden Trend bewertet: die Linksfront ist sichtlich „im Aufwind“. Am 15. bzw. 16/17. März haben zwei renommierte Meinungsforschungsinstitute, nämlich CSA und Ifop, in aktuellen Telefon- oder Internet-Umfragen erstmals festgestellt, dass der Kandidat der Linksfront die magische 10 Prozent-Marke überschritten hat – was zu Beginn des Wahlkampfs kaum jemand für möglich gehalten hätte. Pierre Laurent, Nationalsekretär der PCF, führte dies auf drei Gründe zurück: „Unser Wahlkampf ist erstens der kämpferischste, um die Niederlage von Nicolas Sarkozy zu sichern, zweitens der nützlichste, um der (rechtsextremistischen) ‚Front National’ den Weg zu verbauen, und drittens der wirkungsvollste, um nach einem Wahlsieg der Linken zu garantieren, dass die Verpflichtungen zu einer echten linken Politik eingehalten und die politischen Bedingungen dafür geschaffen werden.“
Die gleichen Umfragen von Mitte März verdeutlichten allerdings auch, dass der „Sieg der Linken“ noch nicht als wirklich gesichert angesehen werden kann. Erstmals vermeldete ein Umfrageinstitut, dass Staatschef Sarkozy bei der jüngsten Befragung mit 27,5 Prozent knapp vor dem Sozialisten (Sozialdemokraten) Hollande mit 27,0 Prozent gelegen hat, der bisher immer an der Spitze lag. Bei einer gleichzeitig durchgeführten Umfrage eines anderen Instituts lag Sarkozy allerdings wieder an zweiter Stelle. Die Reihenfolge der Umfrageergebnisse für die übrigen Kandidaten: die Rechtsextremistin Marine Le Pen mit 17,5 % nach wie vor an dritter Stelle, der „Liberale“ Bayrou mit 13 % auf Platz vier, Melenchon („Front de Gauche“) mit 10 – 11 % auf Platz fünf. Für den zweiten Wahlgang sagen die Institute allerdings übereinstimmend einen Wahlsieg von Hollande (54 % gegen 46 %) voraus.
Insgesamt treten im 1. Wahlgang nun offiziell 10 Kandidatinnen und Kandidaten an, die fristgerecht zum 16. März die erforderlichen 500 Unterschriften von Bürgermeistern oder Abgeordneten der Kommunal- und Regionalparlamente eingereicht hatten. Dazu gehören neben den oben genannten fünf die grüne EU Abgeordnete Eva Joly (Europe Ecologie – Les Verts) sowie die beiden trotzkistischen Kandidaturen von Nathalie Arthaud („Arbeiterkampf“) und Philippe Poutou (NPA – „Neue Antikapitalistische Partei“), die sich der Linksfront trotz entsprechender Einladung zur Mitarbeit verweigert haben. Auf eine Kandidatur verzichten musste dagegen der frühere französische Ministerpräsident Dominique de Villepin, ein persönlicher Intimfeind Sarkozys, der nicht die erforderliche Zahl von Unterstützungsunterschriften zusammen bekam.
Text: Pierre Poulain Foto: pcf