15.04.2018: Es ist auch dem 22. Parteitag nicht gelungen, einen grundlegenden Fehler zu vermeiden: Die Organisierung von politischen Klärungsprozessen als innerparteilichen Macht- und Fraktionskampf.
Eine gute Voraussetzung für ein - wenn auch spätes - Gelingen wäre gewesen, Vertreterinnen und Vertreter aller auf dem 20. und dem 21. Parteitag sichtbar gewordenen Positionen in den neuen Parteivorstand zu wählen. Die heutige Führung hat diese Möglichkeit nicht genutzt. In Kenntnis ihrer Stimmenmehrheit ließ sie jeweils durchwählen. Stimmen für die Einheit der Partei hatten auch jetzt keine Chance, gravierende politische Differenzen wurden kaum angesprochen, geschweige denn ausgeräumt. In einer Situation, in der die Rechte in der Gesellschaft massiv Fuß fasst und sich die Sozialdemokratie europaweit im Abstieg befindet, verharrt man nach dem Rückgriff auf Stalin, der Hinwendung zu einer sektiererischen KKE und der Abwendung von der Europäischen Linken auf nicht bündnisfähigen, unpolitischen Positionen.
Äußerst kritisch ist auch der organisatorische Zustand der Partei
Obwohl Zerrüttung und Zerfall der Partei vor dem 22. Parteitag einen neuen Höhepunkt erreichten, wurde die mit falschen Behauptungen begründete Absetzung des politisch unliebsamen Bezirksvorstands Südbayern beschlossen und der Unvereinbarkeitsbeschluss gegen das „Netzwerk Kommunistische Politik“ gefasst. Beide Beschlüsse offenbaren eine abstrakte, machtbestimmte Vorstellung von Parteidisziplin, von Beschlussverbindlichkeit und Fraktionen, die von der Parteiführung als „leninistisch“(1) behauptet wird und auch nach Auffassung vieler GenossInnen einem für alle Länder und Zeiten verbindlichen Parteityp entspricht. Doch das ist ein Fehler.
Immer historisch konkret – Lenins Parteikonzeption
Harald Neubert schreibt: „Lenin hatte die bolschewistische Partei als elitäre, illegale Kaderpartei vordergründig zu dem Zweck geschaffen, die Eroberung der Macht in Russland vorzubereiten und durchzuführen. Dieser Zweck bestimmte ihre Organisationsstruktur und Funktionsweise. Das änderte sich auch dann nicht wesentlich, als die Partei in nachrevolutionärer Zeit zu einer legalen, regierenden Massenpartei wurde. Mit der von der kommunistischen Internationale betriebenen Bolschewisierung der jungen kommunistischen Parteien des Westens erhielt dieses Parteikonzept eine internationale Verbreitung.“(2)
Die Leninsche Parteivorstellung der Etappe nach 1905, einer Phase revolutionären Aufschwungs, in der viele Arbeiter in die Partei drängten und legale politische Arbeit möglich wurde, war aber von dieser, den Bedingungen der Illegalität und der Verfolgung geschuldeten, engen, zentralistischen Organisation von Berufsrevolutionären stark unterschieden. In seinem Artikel „Über die Reorganisation der Partei“ von 1905 und in den folgenden Parteibeschlüssen „zeigte sich zum ersten Mal in aller Deutlichkeit, dass Lenins Herangehen an das Problem der Parteiorganisation niemals doktrinär, sondern immer historisch konkret war und von den objektiven Bedingungen und Erfordernissen, nicht subjektivem Kalkül ausging.
...In dieser Etappe „sah Lenin die kommunistische Partei offensichtlich als eine Massenpartei mit effektiven Strukturen, ihre Angelegenheiten demokratisch regelnd, in zweckmässiger Kooperation mit Gewerkschaften und anderen Massenorganisationen, mit enger Verbindung von parlamentarischer und außerparlamentarischer Arbeit ...Wesentliches über Lenins Auffassung von einer revolutionären marxistischen Partei besagt auch seine Einschätzung, dass...“die revolutionäre deutsche Sozialdemokratie der Partei am nächsten kam, wie sie das revolutionäre Proletariat braucht, um siegen zu können.“ (3)
Nach 1905 wirkten die Bolschewiki darum in einer einheitlichen SDAPR mit mehreren unterschiedlichen Strömungen und nicht immer dominierten die Bolschewiki. In dieser Situation befürwortete Lenin entsprechend den Forderungen der nun zahlreichen Arbeitermitglieder einen Vereinigungsparteitag mit den Menschewiki. Ja, Lenin ging soweit, die Möglichkeit einer allgemeinen Mitgliederbefragung, eines Referendums zur Entscheidung wichtiger Fragen zuzulassen. Diese Parteikonzeption entsprach mehr oder weniger einer sozialistischen Strömungsorganisation mit antikapitalistischer Programmatik wie etwa heute die Partei „Die Linke“.
Besonders deutlich wurde Lenins Auffassung vom funktionalen Charakter der kommunistischen Partei in der Resolution des 10. Parteitags der KPR/B 1921. Darin heißt es:
„Die Partei des revolutionären Marxismus lehnt das Suchen nach einer absolut richtigen, für alle Stufen des revolutionären Prozesses tauglichen Organisationsform prinzipiell ab. Im Gegenteil: Die Organisationsform und die Arbeitsmethoden werden ganz und gar von den Besonderheiten der konkreten historischen Situation und von den Aufgaben bestimmt, die sich unmittelbar daraus ergeben.“
Lenin und das Fraktionsverbot – nur solange sich die Partei in Bedrängnis befand
Auf den ersten Blick erscheint es widersprüchlich, dass der 10. Parteitag der KPR/B ein Fraktionsverbot beschloss, nachdem nur ein Jahr zuvor der 9. Parteitag ausdrücklich die Zulässigkeit von Fraktionen bestätigt hatte. Aber dieser innerorganisatorische Kurswechsel war ausschließlich der besonderen historischen Situation geschuldet. In diesen Monaten war das Bündnis mit der Bauernschaft in ernsthafter Gefahr zu zerbrechen. Damit stand auch die Existenz des jungen Sowjetstaates unmittelbar auf dem Spiel. Niemand kann bestreiten, dass Fraktionen in solchen zugespitzten Situationen die Handlungsfähigkeit einer revolutionären Partei schwächen. Unter Stalin wurde daraus aber ein immer gültiger Grundsatz und ein generelles Fraktionsverbot.
Zu dieser Frage schreibt Hans Kalt in seinem Standardwerk „In Stalins langem Schatten“: „Dabei war Lenin überzeugt, dass in Phasen der Herausarbeitung einer erfolgversprechenden revolutionären Strategie innerhalb der Arbeiterbewegung der ideologische Kampf einzelner Richtungen, Plattformen und Fraktionen zulässig, ja manchmal notwendig ist. Genau auf diesem Weg hatte sich schließlich innerhalb der russischen Sozialdemokratie der bolschewistische Flügel zur Kommunistischen Partei entwickelt. Nur wer (wie Stalin) davon ausging, dass weitere Auseinandersetzungen um strategische Varianten des künftigen Weges nicht mehr notwendig waren, sondern nur mehr die Zusammenfassung aller Kräfte zur Durchsetzung der einmal gewählten Variante, konnte das von Lenin in dieser dramatischen Situation durchgesetzte Fraktionsverbot als immer gültig erklären“.
Georg Fülberth sieht dennoch in diesem Fraktionsverbot eine verhängnisvolle Entscheidung: „Hier begann, wie im Nachhinein festgestellt werden kann, die innere Deformation der Kommunistischen Partei, von Lenin vehement vertreten, aber (nur) als Zugeständnis, solange sich die Revolution in Bedrängnis befand. Tatsächlich ist das Fraktionsverbot bis in die Achtzigerjahre nie aufgehoben worden.“(Fülberth/Der große Versuch)
Parteidisziplin, Beschlussverbindlichkeit, Statut - stets unter politischem Vorbehalt
„Die Partei, die Partei, die hat immer Recht...“ Parteigehorsam und Stalinkult, die aus den Zeilen dieses Liedes von Louis Fürnberg sprechen, gehören zu einer anderen Zeit. Der überzogene Wahrheitsanspruch nicht weniger, - sollte man denken. Unsere Parteileitung mit ihren Disziplinierungsbeschlüssen des 22. Parteitags ist aber offensichtlich der Ansicht, dass auch politisch fehlerhafte und sogar unsinnige Beschlüsse die Mitglieder binden und unter allen Umständen auszuführen sind.
In seiner Schrift gegen den „linken Radikalismus“ (1920) trifft Lenin ganz wesentliche Aussagen zur Parteiproblematik der Beschlussverbindlichkeit und stellt die Frage: „Wodurch wird die Disziplin der revolutionären Partei des Proletariats aufrecht erhalten?“ Seine Antwort: Erstens durch das Klassenbewusstsein der proletarischen Avantgarde…, zweitens durch die Fähigkeit, sich mit den breitesten Massen der Werktätigen, aber auch mit den nichtproletarischen Massen zu verbinden, ja bis zu einem gewissen Grade mit ihnen zu verschmelzen. Drittens durch die Richtigkeit der politischen Führung,...ihrer politischen Strategie und Taktik, unter der Bedingung, dass sich die breitesten Massen durch eigene Erfahrung von dieser Richtigkeit überzeugen.“ Ohne richtige politische Führung, so Lenin, werden „Versuche, eine Disziplin zu schaffen, unweigerlich zu einer Fiktion, zu einer Phrase, zu einer Farce.“
Zum Abschluss
Die Parteispitze begründet die von ihr betriebenen Disziplinierungsbeschlüsse damit, dass dies zur Wahrung von Einheit und Geschlossenheit der Partei nötig und sogar unverzichtbar sei. Aber das ist blanke Augenwischerei. Seit dem 20. Parteitag haben sich, gefördert durch die linksradikale Verengung der Politik und das Vermeiden einer auf Programmbasis geführten Diskussion zugunsten der Absicherung dieser Politik, bereits weitere linksopportunistische Strömungen herausgebildet. Das Gegenteil von „Einheit und Geschlossenheit“ zeichnet sich ab: Ein weiteres Auseinanderdividieren der kommunistischen, an der marxistischen Theorie orientierten Kräfte, eine weitere, auch zahlenmäßige Schwächung der DKP und die weitere Zersplitterung in immer mehr wirkungslose Kleingruppen, die an der politischen Entwicklung in diesem Land nicht mehr das Geringste ändern.
Dahinter steht ein veraltetes, durch die geschichtlichen Erfahrungen überholtes Parteiverständnis aus Zeiten Stalins, das keineswegs den Vorstellungen und der Praxis Lenins entspricht.
Rudi Christian, Hamburg
(1) Die Begriffe „Leninismus“ und „leninistisch“ wurden maßgeblich in der Zeit Stalins geprägt, waren Teil seines Bestrebens, sich in die theoretische Nachfolge Lenins zu stellen. Sie geben die Stalinsche Interpretation Lenins wieder, nicht nur mit allen ihren Verkürzungen, Schematisierungen und Dogmatisierungen, sondern auch mit offen fehlerhaften Interpretationen Lenins. (Judick /Steinhaus/ Geschichtskommission der DKP)
(2) Harald Neubert
(3) Heinz Karl, Marx. Blätter 4/17