100 Jahre nach der Gründung der KPD

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01.09.2018: Referat von Georg Polikeit, das er am Samstag, den 25.8.18, auf einer gemeinsamen Veranstaltung der DKP-Kreise Wuppertal und Solingen unter der Bezeichnung "Bergische Kaffeetafel" im dortigen Naturfreundehaus mit ca. 45 Teilnehmern gehalten hat.

Die Überschrift über meinem Text heißt „100 Jahre nach der Gründung der KPD“, nicht „100 Jahre KPD“. Das hat seinen Grund. Denn mein Text soll nicht zum x-ten Mal die historische Bedeutung der KPD-Gründung darstellen, wie es zu solchen Jahrestagen normalerweise üblich ist. Ich will mich mehr damit befassen, was 100 Jahre später davon geblieben und daraus geworden ist, und auch einige Punkte ansprechen, was wir vielleicht aus den 100 Jahren Geschichte lernen sollten.

Keine Massenversammlung

Zum Gründungsparteitag selbst will ich zunächst anmerken: Es war keine Massenversammlung, die da zum Jahreswechsel 1918/19 mitten in einer revolutionären Situation im Festsaal des Berliner Abgeordnetenhauses zur Gründung der KPD zusammenkam.

Laut dem Protokoll des Gründungsparteitags(1)  versammelten sich insgesamt 127 Teilnehmer aus 56 Orten. Das waren weniger, als heute zu einem DKP Parteitag zusammenkommen.

83 Teilnehmer aus 48 Orten gehörten zum Spartakusbund, 3 waren vom Roten Soldatenbund, 1 wurde als Vertreter der Jugend geführt. Und 29 gehörten zu den „Bremer Linksradikalen“ und anderen Gruppen der „Internationalen Kommunisten Deutschlands“, die sich während des Krieges unabhängig vom Spartakusbund formiert hatten.

Sieben Wochen vorher hatte mit dem Aufstand der Kieler Matrosen am 3. November die Novemberrevolution begonnen. Sie breitete sich in rasanter Geschwindigkeit auf ganz Deutschland aus. Große Antikriegsdemonstrationen und ein anhaltender Generalstreik in ganz Deutschland erreichten am 9. November den Sturz der Hohenzollernmonarchie und damit die Beendigung des blutigen ersten Weltkrieges. An vielen Orten entstanden Arbeiter- und Soldatenräte, die teilweise örtlich die Macht übernahmen.

Der neuernannte Reichskanzler Friedrich Ebert, ein rechter Sozialdemokrat, der als SPD Vorsitzender während des Krieges die „Vaterlandsverteidigung“ befürwortet, also die imperialistische Kriegspolitik des deutschen Kaiserreichs mitgetragen hatte, bildete aus drei Mehrheitssozialdemokraten und drei Führern der 1917 gegründeten „Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei“ (USPD) den „Rat der Volksbeauftragten“. Philipp Scheidemann von der Mehrheits-SPD rief vom Balkon des Reichstags die „deutsche Republik“ aus, Karl Liebknecht parallel dazu vom Balkon des Berliner Schlosses die „Freie sozialistische Republik".

Aber es war zum Zeitpunkt des Gründungsparteitags noch offen, was letztlich aus der Revolution werden würde.

Ebert hatte schon einen Tag nach seinem Amtsantritt einen geheim gehaltenen Pakt mit General Groener von der Obersten Heeresleitung der alten kaiserlichen Armee vereinbart, um mit Hilfe der zurückkehrenden „Fronttruppen“ und neu entstandener „Freikorps“ die Revolution abzuwürgen.

Im Dezember gab es die ersten Gegenangriffe der sich neu formierenden Konterrevolution. Der größte war genau am Weihnachtstag 1918. Reaktionäre Truppen versuchten, die von den roten Matrosen gebildete „Volksmarinedivision“ im Berliner Schloss und Marstall zu umzingeln und dann anzugreifen. Die rasche Mobilisierung von Arbeitern aus den Vororten Berlins in den Rücken der Angreifer bewirkte jedoch, dass sie den Angriff schließlich aufgeben mussten.

Zu einem Wendepunkt im Revolutionsverlauf wurde der „Reichsrätekongreß“, der vom 18. – 21. Dezember in Berlin tagte. Die überwiegende Mehrheit der in ganz Deutschland gewählten Delegierten glaubte der Ebert-Regierung, dass mit ihr „der Sozialismus marschiert“. Statt „Alle Macht den Räten“, wie der Spartakusbund forderte, beschloss der Rätekongreß die Einberufung einer deutschen Nationalversammlung, die über das künftige politische System in Deutschland entscheiden sollte – und damit seine Selbstentmachtung.

„Wir sind wieder bei Marx“

„Heute erleben wir den Moment, wo wir sagen können: wir sind wieder bei Marx, unter seinem Banner“, rief Rosa Luxemburg in ihrer Programmrede auf dem KPD-Parteitag.

Und sie meinte damit, dass die neugegründete Kommunistische Partei mit den Verantwortlichen für den Verrat von 1914 an den Antikriegsbeschlüssen der Sozialistischen Internationale, mit der „Burgfriedenspolitik“ der führenden rechtssozialdemokratischen Politiker und Reichstagsabgeordneten, mit der Ein- und Unterordnung der Arbeiterbewegung in das kapitalistische System gebrochen hat. Und dass die neugegründete Partei die originale Zielsetzung des „Kommunistischen Manifests“ wieder aufnimmt, nämlich die Verwirklichung einer sozialistischen Revolution zur Abschaffung der kapitalistischen Ausbeutung und Klassenherrschaft.

Aber das war keine lange geplante und vorbereitete Trennung von der Sozialdemokratie. Anders als die russischen Bolschewiki, die sich schon 1912 auch organisatorisch vom reformistischen Flügel der Menschewiki getrennt hatten, blieben die marxistischen Linken in Deutschland auch nach Kriegsausbruch 1914 in der SPD, allerdings als eigenständige Gruppe mit klarer Oppositionshaltung zur Kriegspolitik der Parteiführung. Als sich 1917 die „Unabhängige Sozialdemokratische Partei“ (USPD) von der Mehrheits-SPD abspaltete, orientierte sich der Spartakusbund auf das Wirken innerhalb dieser Partei. Es ging ihm darum, die Masse der gegen den Krieg eingestellten Anhänger der USPD vom Einfluss ihrer Führer zu lösen und damit eine Massenbasis für den revolutionären Umbruch zu gewinnen.

Erst im Dezember 1918, als klar wurde, dass ein außerordentlicher Parteitag der USPD mit dieser Zielsetzung nicht erreichbar war, waren die Bedingungen dafür reif, nun den organisatorischen Bruch auch mit der USPD zu vollziehen und die KPD als eigenständige revolutionäre Partei zu gründen.

Wie Rosa Luxemburg das strategische Ziel begründete

Interessant finde ich   auch angesichts heutiger Strategie-Debatten - wie Rosa Luxemburgs auf dem Gründungsparteitag in ihrer Programm-Rede an die Begründung des Ziels der Partei heranging.

Mitten in der Revolution hätte es ja vielleicht nahegelegen, einfach zu verkünden, das Ziel der Partei sei die Weiterführung der Revolution bis zur vollständigen Beseitigung des Kapitalismus und Einführung des Sozialismus.

Aber Rosa Luxemburg nahm sich ungeachtet der revolutionären Situation die Zeit, das Ziel der Partei auch mit einem historischen Rückblick auf frühere marxistische Vorstellungen zu begründen und damit wissenschaftlich zu untermauern.

Rosa Luxemburg ging davon aus, dass Marx und Engels ihre Ansichten zu dieser Frage im Lauf der Entwicklung verändert haben. Im ‘“Kommunistischen Manifest“, das noch vor der Revolution von 1848/49 verfasst worden war, waren Marx und Engels noch der Meinung, das Ziel sei der unmittelbare Übergang zum Sozialismus und die Arbeiterklasse müsse dazu nur durch eine politische Revolution die Staatsgewalt übernehmen. Später erklärten Marx und Engels aufgrund der Erfahrungen in der 48 er Revolution und späterer Ereignisse, dass diese im „Manifest“ formulierte Vorstellung „stellenweise veraltet“ sei. Sie korrigierten sie dahingehend, dass zunächst eine längere Phase der Formierung der Kräfte notwendig sei, bevor die Arbeiterklasse die politische Macht erringen könne.

Daraus ergab sich in den rasch zu Massenparteien heranwachsenden sozialdemokratischen Parteien die Praxis, wie Rosa Luxemburg formulierte, es als unmittelbare Aufgabe der Partei anzusehen, „den täglichen Kleinkampf auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet“ zu führen, „um nach und nach erst die Armeen des Proletariats heranzubilden“, die dann in der Lage sind, die Macht zu erringen und die sozialistische Revolution durchzuführen. So entstand in den sozialdemokratischen Parteiprogrammen mit damals noch marxistischer Orientierung die Unterscheidung zwischen einem „Minimalprogramm“, in dem die unmittelbar im Vordergrund stehenden nächsten Ziele und Aufgaben genannt wurden, und dem „Maximalprogramm“, in dem das sozialistische Endziel behandelt wurde.

Relativ ausführlich ging Rosa Luxemburg in diesem Zusammenhang auf das Vorwort von Friedrich Engels aus dem Jahr 1895 zur Neuauflage der von Marx 1850 verfassten Schrift über die „Klassenkämpfe in Frankreich“(2)  ein. In diesem Text hatte Engels es zu einem „puren Wahn“ erklärt, „zu glauben, das arbeitende Volk könnte bei der heutigen Entwicklung des Militarismus, der Industrie und der Großstädte Straßenrevolutionen machen und dabei siegen“. Also eine klare Absage an frühere Vorstellungen von Revolution als bewaffneter Aufstand. Gleichzeitig schrieb Engels in diesem Text, dass die Arbeiterklasse inzwischen aber eine „ganz neue Kampfweise“ entwickelt habe, nämlich die „erfolgreiche Benutzung des allgemeinen Stimmrechts“. Bourgeoise und Regierung hätten jetzt mehr Angst „vor der gesetzlichen als vor der ungesetzlichen Aktion der Arbeiterpartei, vor den Erfolgen der Wahl als vor denen der Rebellion“.

Rosa Luxemburg nahm Engels in ihrer Rede in Schutz gegen den Vorwurf, er sei mit dieser Gegenüberstellung von „Straßenrevolution“ und „allgemeinem Stimmrecht
für die Ausbreitung des reformistischen „Nur  Parlamentarismus“ in der Sozialdemokratie verantwortlich. Engels, sagte sie, hätte sich gewiss gegen eine solche Fehldeutung seines Textes gewehrt, wenn er das noch erlebt hätte. Aber er starb noch im gleichen Jahr 1895.

Doch nun, in der Novemberrevolution von 1918, standen die deutschen Revolutionäre plötzlich wieder mitten in einer „Straßenrevolution“, ganz im Gegensatz zu den von Engels 1895 gemachten Aussagen.

Um diesen Widerspruch zu erklären, berief sich Rosa Luxemburg in der Rede zum Parteiprogramm auf die „Dialektik der Geschichte“.

Damit hatte sie sicherlich recht. In der Tat hatte die Niederlage des deutschen Imperialismus im ersten Weltkrieg, der revolutionäre Aufbruch der Volksmassen gegen Krieg und Monarchie, die Tatsache, dass die Massenstimmung spontan dem Sozialismus zuneigte, die Voraussetzungen geschaffen, um aus der Antikriegs- und Antimonarchie-Revolution, die die Novemberrevolution zunächst war, eine sozialistische Revolution zu machen.

Aber offensichtlich galt diese „Dialektik der Geschichte“ eben nur für ein relativ kurzes Zeitfenster. Schon das Jahr 1919 war von einem Abflauen der Revolutionsstimmung gekennzeichnet - obwohl es regional noch bis 1923 große revolutionäre Massenkämpfe gab. Es gelang den rechten Führern von SPD und USPD, die revolutionäre Erhebung auf die Wahl der Nationalversammlung und damit in das Fahrwasser einer bürgerlich-demokratischen Republik zu leiten.

Das heißt, die von Rosa Luxemburg ins Feld geführte „Dialektik der Geschichte“ hätte schon bald wieder eine weitere Änderung des strategischen Ziels der Partei erfordert, weil die Bedingungen für eine unmittelbare sozialistische Revolution nicht mehr in der Weise wie Ende 1918 vorhanden waren.

Das bestätigt meiner Ansicht nach die Erkenntnis, dass strategische Zielsetzungen einer kommunistischen Partei nicht ein für allemal dieselben bleiben können. Sie ändern sich und sie müssen sich ändern in Abhängigkeit von der jeweiligen Entwicklung der Kräfteverhältnisse.

Was ist heute noch davon geblieben?

Doch nun möchte ich weg vom Gründungsparteitag zu der Frage übergehen: Was ist 100 Jahre später daraus geworden? Was ist heute noch davon geblieben?

Manche würden diese Frage vielleicht lieber umgehen und verdrängen. Aber ich meine, wir können uns um eine offene und ehrliche Beantwortung nicht herumdrücken und sie auch nicht schönfärben.

Die KPD hatte vor allem in der Weimarer Republik zweifellos große Erfolge und insbesondere im Kampf gegen den Faschismus Großes geleistet. Das gilt auch für den antifaschistischen Widertand während der Hitlerdiktatur, bei dem die KPD die aktivste Kraft war und auch die meisten Opfer zu beklagen hatte.

Nach der Befreiung vom Faschismus gelang es der KPD wenigstens in Ostdeutschland unter dem Schirm der Roten Armee, einen erfolgreichen Vereinigungsprozess mit der Mehrheit der Sozialdemokraten zu vollziehen. Das Drängen nach der Vereinigung der Arbeiterparteien ergab sich aus den Erfahrungen des gemeinsamen Widerstands von Kommunisten und Sozialdemokraten während der Hitler-Diktatur und in den KZs. Auch in Westdeutschland gab es nach Kriegsende 1945/46 an vielen Orten Bestrebungen von Kommunisten und Sozialdemokraten zur Vereinigung der Arbeiterparteien, darunter auch in Wuppertal. Im Westen wurden diese Bestrebungen allerdings von dem in Hannover (britische Besatzungszone) eingerichteten „Büro Schumacher“, das gegen den 1945 in Berlin gebildeten Zentralausschuss der SPD opponierte, und von den westlichen Besatzungsmächten aktiv behindert und später ganz unterbunden. Die Vereinigung von KPD und SPD im Osten Deutschlands zur „Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ war in meiner Sicht eine entscheidende Voraussetzung, um später wenigstens in einem Teil Deutschlands den ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden gründen zu können.

In gewisser Hinsicht kann auch der Kampf gegen die Remilitarisierung in Westdeutschland nach 1945 zu den positiven Leistungen der KPD gezählt werden. Auch wenn die Remilitarisierung letztlich nicht verhindert werden konnte, spielte die KPD dabei eine aktive initiierende Rolle für eine Bewegung, die beträchtliche Teile der Bevölkerung weit über die Reihen der KPD hinaus mobilisierte. Ähnlich ein paar Jahre später bei der Bewegung gegen atomare Aufrüstung und die Stationierung von Atomwaffen in Westdeutschland.

Dies alles gehört zu den Traditionen der KPD, auf die wir auch heute stolz sein können. Zu ihnen hat sich auch die DKP bei ihrer Neukonstituierung vor 50 Jahren bekannt.

Aber zugleich führt meiner Ansicht nach nichts an der Feststellung vorbei, dass wir heute sagen müssen: die Hoffnungen, die vor 100 Jahren mit der Gründung der KPD verknüpft waren, haben sich nicht erfüllt.

Die marxistisch orientierten Kräfte sind heute international, aber besonders in Europa und in Deutschland weit zurückgeworfen in Zeiten wie ganz am Anfang der Bewegung – allerdings unter ganz anderen wirtschaftlichen, technologischen, politischen und ideologischen Bedingungen als damals.

Das führt zu der Frage, warum das so ist. Welche Ursachen gibt es dafür? Haben wir diese Situation im Wesentlichen vor allem durch eigene Fehler selbst verschuldet? Welche Erkenntnisse und Lehren können wir daraus ziehen?

Ich werde diese Fragen sicher nicht ganz allein umfassend beantworten können. Das verlangt eine gründliche, viele Aspekte einbeziehende kollektive Diskussion, die noch lange nicht als beendet angesehen werden kann.

Ich werde also nur auf einige Punkte zu den vorhin erwähnten Fragen eingehen, und dies, ohne zu glauben, damit schon den Stein der Weisen gefunden zu haben. Deshalb will ich ausdrücklich zu einer kritischen Diskussion darüber auffordern.

Die Praxis bestätigt die marxistische Theorie

Meine erste Überlegung zu den aufgeworfenen Fragen ist der Gedanke, dass es keinen stichhaltigen Grund gibt, der Behauptung zu glauben, dass sich in dem großen Rückschlag, den die kommunistische Bewegung insgesamt 1989/90 erlitten hat, die Fehlerhaftigkeit der marxistischen Theorie insgesamt zeige.

Allein die Tatsache, dass der 200. Geburtstag von Karl Marx zu einer wahren Flut von Veröffentlichungen in allen Weltteilen geführt hat und von Freunden wie Gegnern in unzähligen Publikationen ausführlich behandelt wurde, macht deutlich, dass die marxistische Theorie offenbar so tot nicht sein kann, wie es ihre Gegner gern hätten.

In Wirklichkeit ist es der Kapitalismus selbst, der mit seinen enormen zerstörerischen, sich weiter verschärfenden vielgestaltigen Krisenprozessen das Interesse an der marxistischen Theorie immer wieder weckt und wach hält. Hinzu kommt die rasant zunehmende soziale Ungleichheit zwischen einer Handvoll superreicher Multimilliardäre und der großen Mehrheit der Bevölkerung.

Die Zahl der Menschen, die begreifen, dass dies alles mit dem zentralen kapitalistischen Prinzip der Profitmaximierung zusammenhängt, ist im Wachsen.

Wir können also ohne Übertreibung festhalten: Eigentlich bestätigt die Praxis die marxistische Theorie.

Aber wir sollten uns hüten, damit in ein enges dogmatisches Verständnis dieser Theorie zu verfallen.

Nicht alle Probleme dieser Welt sind schon in den Werken der marxistischen Klassiker geklärt. Die Welt, die Wirtschaft, die Technik, die menschlichen Kenntnisse verändern sich ständig weiter. Daraus entstehen immer wieder neue Fragen, die Marx und Engels oder Lenin nicht behandelt haben, weil es sie zu ihren Lebzeiten noch nicht gab.

Notwendig ist also eine ständige kreative Weiterentwicklung der marxistischen Theorie. Dazu braucht es die nötige Bereitschaft und Offenheit. Das kann und wird auch zu Erkenntnisse führen, die in manchen Punkten über die Aussagen von Marx, Engels und Lenin hinausgehen, ihre Erkenntnisse entsprechend neuen Entwicklungen ergänzen, vergenauern, möglicherweise auch korrigieren und vervollständigen.

Dazu gehört meiner Ansicht nach beispielsweise die Einschätzung der heutigen Entwicklungsstufe des Imperialismus und ihrer spezifischen Merkmale, die in Lenins „Imperialismus“ noch nicht enthalten sein konnten, weil der Imperialismus sich auch nach Lenins Untersuchung in den seitdem vergangenen 100 Jahren weiterentwickelt hat.

Der Rückschlag von 1989/90

Eine zweite Überlegung zu den aufgeworfenen Fragen ist die: Natürlich hängen unsere heutigen Schwierigkeiten in erheblichem Ausmaß mit dem großen historischen Rückschlag zusammen, den die internationale kommunistische Bewegung 1989/90 mit dem Zusammenbrechen der Sowjetunion und der anderen sozialistischen Staaten in Osteuropa einschließlich der DDR erlitten hat.

Ich halte es für falsch, so wenig wie möglich darüber reden zu wollen.

Nur wenn wir die Ursachen dafür uns selbst und anderen präzis erklären können und die sich daraus ergebenden Lehren deutlich kundtun, werden wir die tiefgehenden und lang anhaltenden Wirkungen dieses Scheiterns bewältigen können.

Es genügt nicht, als Reaktion darauf nur auf die sozialen Errungenschaften zu verweisen, die der untergegangene Sozialismus zweifellos aufzuweisen hatte.

Und als Ursache für das Scheitern kann auch nicht nur auf das Fehlverhalten einiger führender Politiker sozialistischer Staaten verwiesen werden.

Denn wahr ist, dass die Unzufriedenheit in großen Teilen der Bevölkerung über Versorgungsmängeln und andere Beschränkungen nach Jahrzehnten sozialistischer Entwicklung unter kommunistischer Führung schließlich so groß war, dass eine Krise im Verhältnis zwischen Bevölkerung und Partei- und Staatsführung entstand. Statt die Grundlagen des sozialistischen Systems für erhaltens- und verteidigungswert anzusehen, glaubten viele am Ende den westlichen Parolen, dass der Kapitalismus letztlich die besseren Ergebnisse in der Wirtschaft und auch für das Leben der Menschen aufzuweisen habe.

Es waren in erster Linie innere Ursachen, die die Grundlage für diese ideologischen und politischen Fehlentwicklungen abgaben.

Das betrifft zunächst die ungelösten Wirtschaftsprobleme, zum Beispiel das Zurückbleiben bei der Entwicklung der Arbeitsproduktivität.

Aber es geht nicht allein um wirtschaftliche Fragen. Entscheidend waren, eng damit verknüpft, auch große Mängel und Fehlentwicklungen im politischen System.

Das verbürokratisierte, stark zentralistisch organisierte System der Anweisungen von oben nach unten in der Wirtschaft, aber auch im Staat und sogar in der Partei, war im Wesentlichen in der Stalin Zeit entstanden. Aber es ist auch später nie wirklich grundlegend überwunden worden. Durch die rigorose Verfolgung sogenannter „Abweichungen“ wurde es geradezu zementiert. Bei vielen herrschte Angst, etwas Falsches zu sagen und deshalb benachteiligt oder sogar bestraft zu werden. Damit wurde jede lebendige sozialistische Demokratie, jede offene Debatte erstickt.

Die Lehre, die wir daraus ziehen müssen, ist vor allem die: die Entwicklung einer lebendigen Demokratie ist eine entscheidende Schlüsselfrage für einen lebensfähigen Sozialismus.

Das gilt auch für unsere Vorstellungen vom zukünftigen Sozialismus. Wir müssen klar machen, dass wir kein „Zurück“ zum untergegangenen Sozialismus wollen. Die Lehren aus dem Scheitern des ersten Sozialismus-Versuchs in Europa müssen uns zu einer tiefgehenden Änderung unserer eigenen früheren Sozialismus-Vorstellungen veranlassen. Der künftige Sozialismus, den wir wollen, muss sich in vieler Hinsicht erheblich von dem unterscheiden, was im 20. Jahrhundert unter kommunistischen Regierungen entstanden war.

Der entscheidende Punkt dabei ist die Frage der Demokratie.

Es genügt nicht mehr zu sagen, dass Sozialismus den revolutionären Bruch mit den bestehenden Macht- und Eigentumsverhältnissen, die politische Macht der Arbeiterklasse im Bündnis mit den anderen werktätigen Volksschichten, die Vergesellschaftung der großen Produktionsmittel und des Finanzsektors, die gesamtgesellschaftliche Planung der Entwicklung zur Voraussetzung hat.

Aufgrund der mit dem untergegangenen Sozialismus gemachten Erfahrungen können und müssen wir heute genauer beschreiben, wie ein zukünftige Sozialismus nach unserer Vorstellung aussehen soll, damit er auf Dauer lebensfähig ist.

Es bleibt zwar richtig, dass wir nicht genau voraussagen können, wie der künftige Sozialismus in den Einzelheiten konkret gestaltet sein wird, weil das von der Art des Übergangs, von den vorhandenen Stärkeverhältnissen der Klassenkräfte, von der Breite der beteiligten Partner abhängt.

Aber aufgrund der Lehren der Vergangenheit können wir jedenfalls sagen, dass der künftige Sozialismus sich auf jeden Fall und vor allem in Bezug auf die Frage der Demokratie vom vergangenen Sozialismusmodell unterscheiden muss. Er muss mit umfassenden Mitwirkungs-, Mitbestimmungs- und Mitentscheidungsrechten von unten nach oben verbunden sein, mit einer gewollten öffentlichen Diskussion über alle wichtigen Fragen, mit der Einbeziehung möglichst der ganzen Bevölkerung in die Entscheidungsprozesse. Um es mit einem Schlagwort zu sagen: es muss ein zutiefst basisdemokratisches System in Wirtschaft und Politik geschaffen werden, dass es im bisherigen Sozialismus so noch nicht gab.

Dabei sollten wir auch an Aussagen anknüpfen, die schon in unserem Parteiprogramm von 2006 enthalten sind. Nämlich dass der künftige Sozialismus, den wir wollen, keine Einparteienherrschaft der Kommunisten sein soll, sondern das gemeinsame Werk von Menschen unterschiedlicher Klassenzugehörigkeit und unterschiedlicher Weltanschauungen. Weil es neben dem marxistischen auch andere Zugänge zur Idee des Sozialismus gibt, die wir respektieren und beteiligten wollen, zum Beispiel christliche, humanistische, ökologische, globalisierungskritische oder Anti-Kriegs-Motive.

Dazu gehört auch, dass die zu entwickelnde sozialistische Demokratie eine Weiterentwicklung der Demokratie sein muss, die schon im bürgerlich-demokratischen Entwicklungsstadium der Gesellschaft erreicht worden ist. Die im bürgerlich-demokratischen System erreichten demokratischen Freiheiten und Rechte der Menschen dürfen nicht eingeschränkt oder abgeschafft, sie müssen vielmehr durch zusätzliche politische und soziale Rechte ergänzt und weiterentwickelt werden.

Veränderte objektive Bedingungen

Als dritten Punkt nur kurz erwähnen will ich, dass unsere heutige Lage nicht nur durch den Rückschlag von 1989/90 verschuldet ist. Es wäre falsch, alles darauf zu reduzieren.

Wir müssen beachten, dass sich seit 1918 auch eine enorme Veränderung der objektiven Faktoren vollzogen hat.

Dazu gehört, dass der Kapitalismus in den 100 Jahren seit der Novemberrevolution trotz seiner zunehmenden vielgestaltigen Krisenerscheinungen zugleich mit einer enormen Entwicklung der Produktivkräfte und des Wirtschaftswachstums verbunden war. Dies schuf auch eine Grundlage dafür, dass der Kampf der Arbeiterbewegung den Herrschenden in den vergangenen 100 Jahren bedeutende Zugeständnisse abringen konnte. Es entstanden „Sozialstaats-Modelle“, von denen vieles auch heute noch als verteidigenswerte Errungenschaften anzusehen ist.

Das hatte auch ideologische Auswirkungen.

Die teilweise rasante technologische Entwicklung führte zu erheblichen Veränderungen in den Arbeitsbedingungen. Daraus ergab sich eine viel stärkere Differenzierung der Arbeiterklasse in unterschiedliche Verdienstkategorien, Schichten und Gruppen als früher.

Vor 100 Jahren hat die Arbeit in den Fabriken unter relativ gleichen Arbeitsbedingungen das Entstehen der Erkenntnis gefördert, dass man einer bestimmten Gesellschaftsschicht angehört. Heute ist eher das Gegenteil der Fall: die Arbeit an hochtechnisierten, automatisierten computergesteuerten Arbeitsplätzen fördert die Vereinzelung. Der Individualisierung der Arbeitsbedingungen entspricht ein verstärkter Individualismus im Denken der Menschen.

Diese Entwicklungstendenzen werden sich in den kommenden Jahren fortsetzen. Denn wir stehen erst am Anfang einer durchgängigen Automatisierung, Digitalisierung und Roboterisierung der Arbeit und auch des Alltagslebens der Menschen.

Ich glaube, dass unsere Diskussion über diese Fragen noch erheblich hinter dem zurück ist, was eigentlich nötig wäre, um genügend auf die neuen Kampfbedingungen eingestellt zu sein, die sich daraus ergeben.

Eigene Fehler

Vierter Punkt: Ein kritischer Rückblick auf die 100 Jahre seit der Gründung der KPD kann nicht um die Frage herumgehen, welche Fehler die deutschen Kommunisten selbst im Lauf der Geschichte gemacht haben.

Anhand der marxistischen Geschichtsdarstellungen, älteren(3)  oder neueren(4) , ist sachlich festzustellen, dass es mehr linksradikale sektiererische Fehler als rechtsopportunistische Irrwege waren, die der KPD das Gewinnen von Masseneinfluss immer wieder erschwert haben.

Schon auf dem Gründungsparteitag gab es in zwei Fragen linksradikale Einstellungen: bei der Wahl- und bei der Gewerkschaftsfrage. In der Wahlfrage beschloss die Mehrheit des Parteitags mit 62 zu 23 Stimmen gegen Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und andere Spartakus-Führer die Nichtbeteiligung an der vom Reichsrätekongreß beschlossenen Wahl zur Nationalversammlung. Bei der Gewerkschaftsfrage dominierte, wiederum entgegen der Meinung von Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und anderen, die Ablehnung der Arbeit in den bestehenden, unter sozialdemokratisch-reformistischer Führung stehenden Gewerkschaften. Ein entsprechender Beschluss zur Gewerkschaftsfrage wurde nur dadurch vermieden, dass Rosa Luxemburg vorschlug, zunächst die Diskussion darüber in der Partei fortzusetzen und die Mehrheit des Parteitags das akzeptierte.

Die linksradikalen Stimmungen gab es seinerzeit allerdings nicht ohne Grund. Die Parteitagsteilnehmer betrachteten die Wahl zur Nationalversammlung ja nicht zu Unrecht als ein Manöver zum Abstoppen der Revolution. Die Gewerkschaften hatten im 1. Weltkrieg die Politik der „Vaterlandsverteidigung“ mitgemacht. Dennoch war die Mehrheitsstimmung in beiden Fragen angesichts der Haltung der großen Mehrheit der Arbeiterklasse in der gegebenen Situation ein Fehler.

In beiden Fragen beschloss aber bereits der Heidelberger Parteitag der KPD ein Jahr später im Oktober 1919 eine Korrektur, die vom 2. Parteitag im Februar 1920 noch einmal bestätigt wurde.

Doch die linksradikalen Ansichten in der Partei und auch in ihren Führungsgremien waren damit nicht überwunden. Es gab auch danach wiederholt starke Auseinandersetzungen über ultralinke Vorstöße, die zeitweilig auch in den Führungsgremien eine Mehrheit fanden.

Nur stichwortartig sei als Beispiel die sogenannte „Offensivtheorie“ erwähnt, die im März 1921 im Zentralausschuß der KPD gebilligt wurde. Sie lief im Wesentlichen auf eine Orientierung auf neue bewaffnete Aufstände hinaus. Sie spielte beim nachfolgenden „mitteldeutschen Aufstand“ in den Leuna-Werken, im Raum Merseburg und im Mansfelder Revier eine unheilvolle Rolle.

Ebenso zwei Jahre später, im Herbst 1923 die in der Zentrale der KPD beschlossenen erneuten Aufstandspläne. Sie sollten nach der Ruhrbesetzung durch französische Truppen, angesichts der galoppierenden Inflation und im Zusammenhang mit der Bildung von „Arbeiterregierungen“ unter Führung linker SPD-Politiker in Sachsen und Thüringen zu einem „deutschen Oktober“ führen. Die KPD-Zentrale musste diese Pläne aber schon wenige Tage später wieder aufzuheben, nachdem die Mehrheit der sächsischen Betriebsrätekonferenz in Chemnitz nicht bereit gewesen war, den von der KPD beantragten Aufruf zu einem deutschlandweiten Generalstreik gegen den drohenden Reichswehreinmarsch zu beschließen. Übrig bleib am Ende der isolierte Hamburger Aufstand vom 23. – 25. Oktober 1923 unter Führung von Ernst Thälmann, weil die Mitteilung über die Aufhebung des Aufstandsbeschlußes dort nicht rechtzeitig angekommen war. Nach zwei Tagen musste auch der Hamburger Aufstand eingestellt werden, weil er in anderen Teilen Deutschlands ohne Echo blieb. Die Vorstellung von einem „deutschen Oktober“ im Jahr 1923 erwies sich als eine von linken Wunschvorstellungen bestimmte Fehleinschätzung. Aber sie verursachte schwere Opfer in der Arbeiterklasse.

Doch auch nach diesen Vorgängen waren die Auseinandersetzungen mit linksradikalen Bestrebungen in der KPD nicht zu Ende. Zeitweise hatte die linksradikale Fraktion 1924/25 unter Ruth Fischer als Vorsitzende des Politischen Büros in der Parteiführung sogar die Oberhand.

Aber auch nachdem Ernst Thälmann 1925 die Führung der Partei übernommen hatte, gab es linksradikale Fehlentscheidungen.

Dazu gehörte die „RGO-Politik“. Die von den Kommunisten formierte „Revolutionäre Gewerkschaftsopposition“ wurde immer mehr zu einer eigenständigen kommunistischen Gewerkschaft außerhalb des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) und in offener Konkurrenz zu ihm ausgebaut. Dies wurde vom Zentralkomitee der KPD im März 1930 ausdrücklich gebilligt.

Besonders schwerwiegend waren linksradikale Fehler in den letzten Jahren der Weimarer Republik im Kampf gegen den Faschismus. Dazu gehört vor allem die verhängnisvolle „Sozialfaschismustheorie“, die auf dem 12. Parteitag der KPD im Juni 1929 beschlossen worden war. Dies folgte einer These Stalins, wonach der Hauptstoß des Kampfes der Kommunisten gegen die Sozialdemokratie gerichtet werden müsse, weil diese zur „sozialen Hauptstütze“ des Monopolkapitals geworden sei.

Es liegt auf der Hand, dass dies den rechten sozialdemokratischen Führern in die Hände spielte, die infolge ihrer antikommunistischen Grundhaltung schon bisher das Zusammengehen mit den Kommunisten im Kampf gegen den Faschismus abgelehnt hatten.

Das hat erheblich dazu beigetragen, dass die Aktionseinheit der Arbeiterklasse nicht zustandekam, die die Hitlerdiktatur noch 1933 hätte verhindern können, wie es 1920 bei der Abwehr des Kapp-Putsches der Fall gewesen war.

Außerdem fasste der 12. Parteitag im Juni 1929 den fehlerhaften Beschluss, dass in Deutschland bald eine neue revolutionäre Situation heranreifen werde und es dann wieder um den Kampf um die unmittelbare Errichtung der Diktatur des Proletariats in Form der Rätemacht gehe. Das hatte zur Folge, dass in vielen KPD-Publikationen der Kampf gegen den Faschismus anschließend mit Losungen wie „Für Rätedeutschland“ oder sogar „Für Sowjetdeutschland“ verknüpft wurde. Das entsprach nicht dem damaligen Bewußtseinsstand der Mehrheit der Arbeiterklasse und rief eher Ablehnung als Unterstützung hervor.

Leider wurden diese fehlerhaften ultralinken Orientierungen erst mit dem VII. Weltkongreß der Komintern 1935 und der nachfolgenden „Brüsseler Konferenz“ der KPD korrigiert.

Die geschichtliche Bedeutung des VII. Weltkongresses liegt aber nicht nur darin, dass Georgi Dimitroff in seinem Referat, gestützt auf die Erfahrungen der „Volksfront“-Politik in Frankreich, auf die Bildung von breiten antifaschistischen Bündnissen unter Einbeziehung von Sozialdemokraten, Christen, bürgerlichen Liberalen und anderen Hitlergegnern orientierte, was in der KPD Politik dann im Ringen um die Bildung einer „Deutschen Volksfront“ aufgegriffen wurde.

Doch wichtiger noch waren meiner Meinung nach die Aussagen Dimitroffs, die eine neue Haltung der Kommunisten zur bürgerlichen Demokratie zum Inhalt hatten. Dimitroff betonte nämlich in seinem Referat, dass es im Kampf gegen den Faschismus notwendig gewesen wäre, die bürgerliche Demokratie als ein verteidigenswertes Gut für die Arbeiterklasse zu begreifen und deren Verteidigung zum strategischen Hauptziel der Partei zu machen. Weil es für die Arbeiterklasse nämlich nicht gleichgültig ist, ob das Kapital seine Herrschaft in einer bürgerlich demokratischen Staatsform oder mit einer terroristischen Diktatur ausübt.

Die bürgerliche Demokratie als ein verteidigungswertes Gut - das war eine grundlegende Korrektur der herkömmlichen, in vielen kommunistischen Parteien üblich gewordenen negativen Haltung zum bürgerlich-parlamentarischen System. Sie war auch später für die Bildung von antifaschistisch-demokratischen Regierungen in Osteuropa nach der Befreiung vom Faschismus, die nicht den sofortigen Übergang zum Sozialismus zum Ziel hatten, von großer strategischer Bedeutung.

Nach 1945

Schwerwiegende linksradikale Fehler ergaben sich in der Politik der KPD auch noch nach dem zweiten Weltkrieg.

Dazu gehörte die verhängnisvolle „These 37“(5) , die im März 1951 vom Münchener Parteitag der KPD beschlossen wurde (der in Wirklichkeit in Weimar in der DDR stattfand). Mit dieser These wurde zwar die Mitgliedschaft in den Gewerkschaften für jedes Parteimitglied zur Pflicht erklärt. Aber zugleich wurde den rechten Gewerkschaftsführern an der Spitze der DGB-Gewerkschaften in völlig überzogener Sprache und mit teilweise auch sachlich falschen Behauptungen unterstellt, dass sie die Gewerkschaften „im Auftrag des amerikanischen Imperialismus und im Einklang mit dem deutschen Monopolkapital in den Dienst der Kriegsvorbereitung stellen“ wollten. Deshalb müssten die Kommunisten in den Betrieben und Gewerkschaften Kampfhandlungen „auch gegen den Willen rechter Gewerkschaftsführer“ auslösen.

Das war ein gefundenes Fressen für militante Antikommunisten in den Gewerkschaften. Das Ostbüro der SPD forderte eine „Generalreinigung“ der Gewerkschaften von „kommunistischer Zersetzungsarbeit“. Hunderte kommunistische Gewerkschafter standen vor der Entscheidung, entweder den von den Gewerkschaftsvorständen verlangten Revers zu unterschreiben, mit dem sie sich von diesem Beschluss ihrer Partei distanzieren, oder aber die Unterschrift zu verweigern und damit ihre Positionen in den Gewerkschaften zu verlieren. Andererseits schloss die KPD ihrerseits Mitglieder, die solche Reverse unterschrieben, aus der Partei aus. Die KPD verlor dadurch eine ganze Anzahl von teilweise auch sehr bekannten und einflussreichen Gewerkschaftern. Die Verankerung der Partei in der Arbeiterschaft wurde erheblich geschwächt.

Ein zweiter linksradikaler Fehler war die Parole vom „Sturz des Adenauer-Regimes“ durch „unversöhnlichen revolutionären Kampf“, die in das im November 1952 vom KPD Parteivorstand verabschiedete „Programm zur nationalen Wiedervereinigung Deutschlands“(6)  aufgenommen wurde.

Für diese Zielsetzung, die dann sprachlich auch noch auf die Formel vom „revolutionären Sturz des Adenauer-Regimes“ verkürzt wurde, fehlte in der Bundesrepublik des Jahres 1952 jede reale Grundlage. Aber für Adenauer und Co. war sie der willkommene Vorwand, um das Verbot der KPD als verfassungsfeindliche Partei zu beantragen, das dann 1956 vom Bundesverfassungsgericht mit eben dieser Begründung verkündet wurde.

Auch die 1968 neukonstituierte DKP war in den folgenden Jahren nicht frei von manchen engen, sektiererischen Verhaltensweisen und linken Fehleinschätzungen. Aber ich kann das jetzt hier nicht mehr näher erläutern.

Hervorheben will ich bei dieser skizzenhaften Auflistung linker Fehler in der Geschichte der deutschen Kommunisten aber, dass sie auch immer wieder die Klugheit und Kraft gefunden haben, solche Fehler früher oder später selbst zu korrigieren. Vor allem, weil sie sich in der Praxis als Sackgassen für die Gewinnung von Masseneinfluss erwiesen.

Die Auflistung linksradikaler sektiererischer Fehler In der Geschichte der deutschen Kommunisten bestätigt meiner Meinung nach aber, dass Linksradikalismus für eine kommunistische Partei mindestens ebenso schädlich ist wie rechtsopportunistisches Fehlverhalten. Ein ständiger Kampf gegen linksradikales Sektierertum gehört deshalb zu den Wesensmerkmalen einer kommunistischen Partei, die ihre Rolle richtig begreift.

Übrigens neigen gerade kleine Gruppierungen, die sich häufig aus einer relativen Isolierung gegen eine Welt von Ablehnung und Vorurteilen wehren, leicht zu sektiererischen Verhaltensweisen wie etwa der ständigen Selbstbetonung der eigenen Wichtigkeit und dem Hervorheben ihrer einmaligen Besonderheit in Abgrenzung gegen alle anderen Kräfte. Gerade die DKP sollte sich heute dieser Gefahr sehr bewusst sein und sie keinesfalls unterschätzen.

Welche Aussichten haben wir?

Ich komme zum letzten Fragekomplex: Welche Aussichten und Zukunftsperspektiven haben wir Kommunisten heute, 100 Jahre nach der Gründung der KPD?

Da will ich zunächst hervorheben, dass die Welt von heute bei genauer Betrachtung gar nicht so total schwarz aussieht, wie man es manchmal empfinden mag.

Es gibt weltweit immer noch eine Reihe von Staaten, in denen Kommunistische Parteien an der Regierung sind.

Nehmen wir das Beispiel Kuba.

Angenommen, es gelingt der Kommunistischen Partei Kubas, ihre sozialistischen Entwicklungsziele tatsächlich zu verwirklichen und mit dem Entwurf der neuen Verfassung die Beziehungen zwischen Partei und Volk weiter zu festigen – welche Auswirkungen wird das in fünfzehn oder zwanzig Jahren auf die umliegenden lateinamerikanischen Staaten haben? Welches Bild vom Sozialismus entwickelt sich dadurch vielleicht auch bei vielen Menschen in Europa und in anderen Weltteilen?

Oder das Beispiel China.

Das ist vielleicht umstrittener, weil sich manche fragen, ob das, was sich dort unter Führung der KP Chinas entwickelt, noch Sozialismus ist. Aber unbestreitbar hat die Entwicklung Chinas von einem armen Entwicklungsland zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt in praktisch nur drei Jahrzehnten unter Leitung der Kommunistischen Partei die internationale Kräftesituation wesentlich verändert und in positiver Weise zur Schwächung der dominanten Vorherrschaft des USA-Imperialismus in der Weltpolitik beigetragen. Angenommen, es gelingt der KP Chinas, ihr selbst gestecktes Ziel zu erreichen, nämlich bis 2020, also schon in zwei Jahren, die große Armut in allen Regionen des weiten Landes durchgängig zu beseitigen und China zu einem „gemäßigt wohlhabenden sozialistischen Land“ zu machen, wie die KP Chinas es selbst formuliert hat – welche Auswirkungen würde das auf die internationale Situation haben? Welche Folgen für das Bild vom Sozialismus in der Weltbevölkerung könnten sich daraus ergeben?

Natürlich ist vor Euphorie zu warnen. Die Geschichte hat uns gelehrt, dass es unumkehrbaren Entwicklungen nicht gibt. Fehlentwicklungen und Rückschläge können sich auch künftig ergeben. Die durch die Krisenprobleme und durch verschärften weltweiten Konkurrenzkampf gesteigerte Aggressivität des Imperialismus kann die internationale Spannungen über den gegenwärtigen Handels- und Zollkrieg hinaus gefährlich zuspitzen und damit die Gefahr eines neuen großen Krieges neben den zahlreichen schon vorhandenen regionalen und lokalen Konflikten und Kriegen akut werden lassen. Der Kampf um den Frieden bleibt deshalb eine entscheidende Voraussetzung, um neue Anläufe zum Sozialismus möglich werden zu lassen.

Außer Kuba und China gibt es noch andere Staaten, in denen Kommunisten an der Macht sind oder in progressiven Regierungen mitwirken, zum Beispiel in Vietnam, Laos und Kambodscha, in Nepal oder in dem indischen Bundesstaat Kerala, der immerhin etwa dreimal soviel Einwohner wie Belgien hat (und gegenwärtig mit den Folgen der größten Überschwemmungskatastrophe in diesem Jahrhundert zu kämpfen hat).

Besonders wichtig ist meiner Meinung nach, welches Ergebnis die Auseinandersetzung in Venezuela in der nächsten Zeit haben wird. Bisher ist es dem Angriff des Imperialismus und der inneren Konterrevolution trotz gewaltiger Anstrengungen und viel Geld nicht gelungen, die sozialistische Regierung Maduro zu stürzen, die mit Unterstützung der Kommunisten regiert. Wenn das so bleibt, kann das bedeutende Auswirkungen in ganz Lateinamerika haben.

Ebenfalls sind in Südafrika die Kommunisten an der Regierung beteiligt, und neuerdings scheint es wieder eine positivere Entwicklung in Richtung auf eine zweite Phase der dortigen nationaldemokratischen Revolution zu geben.

Auch in Europa gibt es einige Länder, in denen interessante Kräftekonstellationen entstanden sind, bei denen die Kommunisten eine bedeutende Rolle spielen.

So zum Beispiel in Portugal, wo die Kommunisten eine Politik der Tolerierung der Minderheitsregierung des Sozialisten Antonio Costa betreiben, zugleich aber auf die Mobilisierung von außerparlamentarischem Druck für die Durchsetzung sozialer und demokratischer Forderungen orientieren. Ohne die Kommunisten gäbe es die Regierung Costa nicht.

Die noch verbliebenen oder neu entstandenen Positionen von kommunistischen Parteien in der Welt sind meiner Meinung nach ein Zeichen dafür, dass es dem Kapitalismus trotz des Triumphs von 1989/90 nicht gelungen ist, seine Hegemonie in der Welt voll wiederherzustellen. Das ist eine Folge seiner Krisenprobleme. Darin zeigt sich, dass der Kapitalismus eben doch nicht das „Ende der Geschichte“ ist, wie 1990 in den USA verkündet wurde.

Aber dies alles kann natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir Kommunisten in Deutschland und in einigen anderen hochentwickelten kapitalistischen Staaten im Verhältnis zu ihrer früheren Stärke und ihrem früheren Masseneinfluss weit zurückgeschlagen sind und vor immensen Schwierigkeiten stehen. Für deren Überwindung ist offenbar noch kein wirklich Erfolg verheißendes Konzept gefunden.

Trotz verbreiteter Unzufriedenheit in der Bevölkerung mit dem etablierten Parteiensystem gelingt es den kommunistischen Parteien einschließlich unserer eigenen nicht, aus dem Stadium einer weitgehend isolierten Kleinpartei herauszukommen. Stattdessen stehen wir vor einer gefährlichen weiteren Rechtsentwicklung.

Dennoch halte ich es aber für unerlässlich halte, an der Existenz und dem Wirken einer kommunistischen Partei unbedingt festzuhalten, auch wenn es gegenwärtig große Meinungsverschiedenheiten über den Kurs unserer Partei gibt, die nicht überwunden sind. Aber ich bin davon überzeugt, dass in unserem Land die Rolle der DKP als marxistische Partei durch keine andere politische Formation ersetzt werden kann.

Um die Existenz der Partei zu sichern, wird es meiner Meinung nach allerdings nicht ausreichen, immer wieder unsere Einzigartigkeit als klassenkampforientierte Partei mit radikaler Gegnerschaft zum Kapitalismus herauszustellen und die Stärkung der eigenen Reihen zum zentralen Kriterium unserer Tätigkeit zu machen.

Wenn es richtig ist, dass die weitere Rechtsentwicklung die Haupttendenz in der Entwicklung der Bundesrepublik ist und dass dies eine große Gefahr darstellt, dann muss unsere aktuelle Zielsetzung doch vor allem darauf ausgerichtet sein, mitzuhelfen, dass diese Rechtsentwicklung und der damit verbundenen Angriff des Kapitals auf soziale und politische Errungenschaften abgebremst und verhindert wird und im Zusammenhang damit auch Reformen zur Verbesserung der Lebensverhältnisse der arbeitenden Menschen durchgesetzt werden. Das wird für die absehbare nächste Zeit, ob es uns gefällt oder nicht, ein Kampf um Reformen im Rahmen des gegebenen kapitalistischen Systems der Bundesrepublik Deutschland sein. Und wie es derzeit aussieht, wird das eine relativ lange Kampfperiode sein, in der die Abwehr der Rechtsentwicklung und die Durchsetzung von Reformen im Rahmen der kapitalistischen BRD im Mittelpunkt unserer Politik und Tätigkeit stehen müssen.

Das heißt natürlich nicht, dass wir auf Kapitalismuskritik und die Propagierung des Sozialismus verzichten sollen. Im Gegenteil, wir müssen die kapitalismuskritischen Ansichten, die sich in beträchtlichen Teilen der Bevölkerung, übrigens bei Menschen ganz unterschiedlicher politischer und weltanschaulicher Richtungen gewissermaßen spontan, aufgrund ihrer eigenen praktischen Erfahrungen entwickelt haben, aufgreifen und festigen helfen. Aber im Zentrum unserer politischen Tätigkeit, als Hauptorientierung, muss aktuell der Abwehrkampf gegen die Rechtsentwicklung stehen.

Dazu brauchen wir Bündnisse, also Bündnispartner. Ich will dabei erwähnen, dass ich die Orientierung auf die Unterschriftensammlung für den Aufruf „Abrüsten statt aufrüsten“ in diesem Sinn für eine richtige und gute Orientierung halte. Auch wenn es meiner Ansicht nach richtiger gewesen wäre, nicht nur auf eine eigenständige Sammelaktion der DKP zu orientieren, sondern gleichzeitig auch darauf, vor Ort möglichst mit anderen Kräften gemeinsam diese Unterschriftensammlung anzugehen.

Aber in vielen anderen Fragen der aktuellen Auseinandersetzung fehlt mir in den Aussagen unserer Partei die Unterstützung von Initiativen, die nicht von uns selbst, sondern von anderen Kräften ausgegangen sind. Es fehlt in vielen aktuellen Aussagen der Parteiführung die bewusste und demonstrative Hervorhebung von Gemeinsamkeiten, von übereinstimmenden Interessen, Ansichten und Forderungen, die wir mit den anderen Linken, mit der Linkspartei, mit Sozialdemokraten, Gewerkschaftern und Menschen anderer politischer oder weltanschaulicher Richtungen gemeinsam haben, die uns mit ihnen verbinden.

Keiner wird Wunderrezepte vorbringen können. wie wir ganz schnell aus unseren heutigen Schwierigkeiten herauskommen und wieder zu einer Partei werden können, die tatsächlich wirkungsvoll in den Gang der politischen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland eingreifen kann, wie das zeitweise in der Geschichte der KPD und auch in den Jahren nach der Neukonstituierung der DKP bis 1989 der Fall war. Aber vielleicht finden wir in der gemeinsamen Diskussion ein paar Ansatzpunkte, um doch erfolgreicher als bisher, mit mehr erkennbarer Wirkung t in die aktuelle politische Entwicklung in diesem Land einzugreifen.


 

  1. https://www.marxists.org/deutsch/geschichte/deutsch/kpd/1918/index.htm
  2. Marx/Engels Ausgewählte Werke in sechs Bänden (blaue Reihe), Dietz-Verlag Berlin 1985, Band VI, Seite 452
  3. „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“ in acht Bänden, 1966 herausgegeben vom „Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED“ von einem Autorenkollektiv unter Vorsitz von Walter Ulbricht.
  4. „Thälmann – ein Report“, 2010 verfasst und herausgegeben von Eberhard Czichon und Heinz Marohn, Verlag Wiljo Heinen Berlin – „KPD 1945 – 1968 Dokumente“, herausgegeben 1989 von Günter Judick, Josef Schleifstein und Kurt Steinhaus, Edition Marxistische Blätter
  5. Siehe „KPD 1945-1968 – Dokumente“, herausgegeben von Günter Judick, Josef Schleifstein, Kurt Steinhaus, Edition Marxistische Blätter, Neuss 1989, Band 1, Seite 335
  6. Siehe „KPD 1945-1968 – Dokumente“, herausgegeben von Günter Judick, Josef Schleifstein, Kurt Steinhaus, Edition Marxistische Blätter, Neuss 1989, Band 1, Seite 398